Können Computerspiele die Intelligenz oder die Denkleistung im Alltag verbessern? Bis heute ist das der heilige Gral in der Lernforschung. Doch Kindern mit ADHS können solche Programme heute schon dabei helfen, ihre Konzentrationsfähigkeit zu steigern.
Computerspiele werden heute gerne als «Hirntrainings» angepriesen. Wer sie nutzt, braucht sein Gedächtnis und seine Reaktionsfähigkeit. Und er wird mit der Zeit besser darin. Denn Übung macht den Meister. Doch kann er sich dann auch in der Schule und im Beruf besser konzentrieren und sich wichtige Dinge leichter merken?
Viele kommerzielle Programme und Apps versprechen genau das. Häufig fehlen wissenschaftliche Belege dafür. Wenn wir uns täglich am Computer ein paar Zahlenreihen oder Bildfolgen merken, macht uns das nicht unbedingt leistungsfähiger im Alltag. Deswegen die Idee von Hirntraining ganz zu verwerfen, ist aber verfehlt.
Busse wegen unbelegter Werbeaussage
Spielerisch die eigene Denkfähigkeit verbessern zu können, ist verlockend. Und sieht der Nutzer, dass er die Spiele immer schneller und besser löst, so glaubt er umso mehr, dass das Hirntraining funktioniert.
Das machte sich beispielsweise die Firma Lumos Labs zunutze. Mithilfe des Programs «Lumosity» wollte sie die Leistungsfähigkeit der Nutzer in der Schule und bei der Arbeit erhöhen und eine beginnende Demenz verzögern: durch zehn Minuten Hirntraining pro Tag.
Allerdings war der sogenannte Transfer-Effekt, also die Wirkung dieser Trainings im Alltag, nicht wissenschaftlich erwiesen. 2016 wurde die amerikanische Handelskammer auf die Firma Lumos Labs aufmerksam. Wegen unbelegbarer Werbeaussagen bezahlte die Firma zwei Millionen Dollar Busse.
Das Hirn passt sich der neuen Herausforderung an
Auftrieb hatten Hirntrainings ursprünglich durch eine Studie aus dem Jahr 2008 bekommen. Studenten der Universität Bern trainierten mit einer sogenannten N-Back-Aufgabe. Dabei erscheint im Sekundentakt ein neuer Buchstabe auf dem Bildschirm. Die Versuchsperson muss sich laufend die vorhergehenden zwei bis drei Buchstaben merken. Nach diesem Training schnitten die Studenten in einem standardisierten Intelligenztest besser ab als vorher.
Kommerzielle Programme, dazu gehört auch «Lumosity», kommen etwas verspielter daher als das Laborexperiment. Der Nutzer muss schnell eine bestimmte Sternenform finden oder sich ein Farbmuster einprägen. Doch das Prinzip ist das gleiche. Um erfolgreich die nächste Schwierigkeitsstufe im Training zu erreichen, muss sich der Nutzer immer besser konzentrieren und immer mehr Information im Gedächtnis behalten können.
«Dass die Nutzer in diesen Aufgaben besser werden, hat mit der Plastizität des Gehirns zu tun», sagt Torkel Klingberg. Er untersucht am Karolinska-Institut in Schweden seit zwanzig Jahren die Möglichkeiten von Hirntraining und vertreibt heute selbst die Hirntrainingssoftware «Cogmed».
Das Gehirn passt sich den neuen Übungen an und stärkt Verbindungen zwischen Nervenzellen, die für das Lösen der Aufgaben notwendig sind. So fallen dem Nutzer die Aufgaben leichter, je mehr er trainiert.
Dieser Effekt ist auch durch Messungen im Magnetresonanztomografen fassbar. Je leichter wir eine Aufgabe lösen, desto fokussierter ist die Hirnaktivität im Stirnhirn und desto weniger Hirnareale sind involviert. Durch Umgruppierung der Aktivität im Gehirn werden abstrakte Denkprozesse immer automatischer ausgeführt. «Doch die ursprünglichen Versprechungen von Hirntrainings waren überzogen», sagt auch Torkel Klingberg.
Transfer nur unter ganz bestimmten Bedingungen
Seit der ersten Studie im Jahre 2008 versuchten viele Forscher einen Transfer zu finden. Eine einfache Arbeitsgedächtnisaufgabe, wie sie die Studenten damals in Bern trainierten, führte aber nicht zuverlässig zu einem Transfer. Heute sind sich Forscher einig, dass ein Transfer nur unter einer ganz bestimmten Bedingungen auftritt: wenn sich die geübte und die neue Aufgabe sehr ähnlich sind.
Wer sich etwa im Training verschiedene dreidimensionale Formen merken muss, der kann danach auch zweidimensionale Figuren besser meistern, wie amerikanische Wissenschafter im Jahr 2022 im Fachjournal «Nature Human Behavior» berichteten.
Für das ursprüngliche Ergebnis aus dem Jahr 2008 gibt es verschiedene Erklärungen. Eine davon setzt bei den Prozessen im Hirn an. Denn Aufgaben, wie sie ein Intelligenztest stellt, können individuell sehr unterschiedlich gelöst werden. Möglicherweise waren damals die Hirnprozesse der Versuchspersonen beim Lösen der Intelligenz- und der Aufmerksamkeitsaufgaben zufällig sehr ähnlich.
Abwechslung im Hirntraining hilft
Das könnte bedeuten: Je abwechslungsreicher und vielfältiger das Hirntraining und je vielfältiger die trainierten Hirnprozesse, desto eher könnte es einen Transfer auf andere Aufgaben geben.
Genau diesen Ansatz verfolgt die Psychologin Susanne Jaeggi heute. Sie hat die Studie an der Universität Bern durchgeführt und leitet heute ein Forschungslabor an der Northeastern University in Boston. Für Jaeggi ist klar: «Die Zukunft des Hirntrainings liegt in multimodalen, personalisierten Computerspielen.»
Dass gesunde Erwachsene ihre Denkprozesse mit etwas Hirntraining noch substanziell verbessern können, daran zweifelt Susanne Jaeggi heute. «Doch Kinder oder ältere Menschen, die ihr Potenzial noch nicht oder nicht mehr voll ausschöpfen, könnten durchaus davon profitieren», sagt Jaeggi.
Am verlässlichsten funktioniert Hirntraining heute bei Kindern mit einer Aufmerksamkeitsstörung (AD(H)S). Seit der Kognitionswissenschafter Klingberg im Jahre 2005 erstmals gezeigt hatte, dass Kinder von den Aufmerksamkeitsübungen am Computer profitieren können, wurde dies mehrfach von anderen Forschern bestätigt.
Bessere Konzentrationsfähigkeit in der Schule
Die wissenschaftlichen Ergebnisse zum Nutzen von Aufmerksamkeitstrainings bei ADHS sind so überzeugend, dass die Behörden in den USA im Jahre 2020 das Programm EndeavorRX zur Unterstützung bei ADHS zugelassen haben. Es ist für Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren gedacht. Auf der Oberfläche unterscheidet es sich kaum von einem herkömmlichen Computerspiel – etwa dem Autofahrspiel «Mario Kart».
Die Zulassung als «digitale Therapie» erhielt das Programm, weil sich in Studien ein Einfluss auf das Verhalten im Alltag zeigen liess: Die Lehrer der Kinder sollen bei diesen eine bessere Konzentrationsfähigkeit wahrgenommen haben.
Jaeggi und ihr Team an der Northwestern University arbeiten heute daran, das Potenzial von Brain-Trainings zum Erhalt der Denkfähigkeit im Alter auszuloten. Dafür sollen die Programme immer genauer auf die Fähigkeiten des einzelnen Nutzers abgestimmt werden – beispielsweise mithilfe von maschinellem Lernen.
Erfolgserlebnisse im Hirntraining können motivieren
Die wissenschaftliche Forschung zum digitalen Hirntraining im Alter steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Eine erste Studie fand, dass ein Hirntrainingsprogramm das Risiko, zehn Jahre später an Demenz zu erkranken, verringern könnte. Allerdings hatten die Versuchspersonen im Alter von 65 Jahren nur sechs Wochen mit dem Programm trainiert.
«Die Wirkung hat vermutlich weniger mit dem Training der grauen Hirnzellen zu tun als mit dem Erfolgserlebnis, das die Versuchspersonen im Training hatten», sagt Jaeggi. Es könnte sie dazu motiviert haben, sich noch weitere herausfordernde Aufgaben zu suchen.
Bis dereinst wissenschaftlich erprobte Hirntrainings verfügbar sind, könnten die Grosseltern also auch mit dem Enkel «Mario Kart» spielen oder ihr Gehirn am Schachcomputer trainieren. Wichtig ist das Erfolgserlebnis.