Trumps Zollpolitik stelle die Identität der Schweiz infrage, sagt Joseph de Weck im Gespräch. Wir stünden an einem Wendepunkt: Was bisher gut gewesen sei für das Land, funktioniere in Zukunft nicht mehr.
In einem Gastbeitrag für den britischen «Guardian» haben Sie letzte Woche geschrieben, Trumps Zollhammer habe die Schweiz in eine tiefe Identitätskrise geführt und stelle alles infrage, wofür das Land stehe. Ist das nicht etwas übertrieben?
Nicht alles ändert sich – aber sehr, sehr vieles. Unabhängig davon, ob Donald Trump mittelfristig die Zölle verringert oder doch nicht: Der neue amerikanische Zoll-Fetischismus stellt unser Land vor eine Grundsatzfrage. Nämlich jene nach dem Aussenwirtschaftsmodell.
Wohin man sich wirtschaftlich orientiert?
Genau. Die Schweiz hat drei relevante Märkte. 55 Prozent der Exporte gehen nach Europa, je 20 Prozent in die USA und nach Asien. Die Ausfuhren nach Asien sind rückläufig, Chinas Markt wird schwieriger: Peking strebt zwecks Rückeroberung von Taiwan strategische Autonomie an. Und nun verbauen die 39 Prozent Zoll wichtige Teile des US-Markts. Aus der Wirtschaftsgeschichte lassen sich hier zwei Lehren ziehen. Erstens: Zölle sind «sticky» – sind sie da, wird man sie kaum los. Zweitens: Setzt eine wichtige Wirtschaftsmacht auf Protektionismus und wirtschaftlichen Nationalismus, steckt das die anderen an wie ein Virus.
Das heisst, andere Länder werden nachziehen?
Die Gefahr ist gross, dass wir erst am Anfang einer langfristigen Entwicklung stehen. Aus Schweizer Sicht heisst das: Werden der amerikanische und der asiatische Markt ungewiss, rückt automatisch der europäische in den Fokus.
Die Schweizer Börse hat kaum reagiert auf Trumps Zollankündigung. Offensichtlich schätzen die Investoren die Lage als nicht so dramatisch ein.
Die Börse ist genauso verwirrt wie wir alle. Derzeit ist sie kein guter Spiegel der Verhältnisse. Fakt bleibt: Präsident Trump glaubt, Zölle seien das Wundermittel zur Lösung von Kernproblemen der USA: die Staatsverschuldung, die Deindustrialisierung, die Opioidkrise. Allemal meine ich, dass wir in der Schweiz an einem Wendepunkt angelangt sind: Das Schweizer Modell, immer zwischen den Blöcken zu navigieren, die Wellen der Weltgeschichte stets zum eigenen Vorteil zu nutzen, kommt an ein Ende.
Dass das Schweizer Modell an ein Ende kommt, wird seit fünfzig Jahren behauptet, vor allem von Befürwortern des EU-Beitritts.
Stimmt, das besagt aber keineswegs, dass es nun nicht zutrifft. Der Mensch geht davon aus, morgen werde sein wie gestern. Meistens ist das auch so. Erst recht in der Schweiz, wo historisch gesehen wenig passiert. Doch die Geschichte kennt Momente der Brüche. Wir erleben gerade einen solchen Moment.
In Ihrem «Guardian»-Beitrag schreiben Sie, die Schweiz sei ein «country club», in dem man abgeschottet von der Weltgeschichte seinen lukrativen Geschäften nachgehe. Das ist doch ein Klischee. Die Schweiz ist so globalisiert und weltoffen wie kaum ein anderes Land.
Das ist genau das Paradoxe an der Eidgenossenschaft: Wirtschaftlich ist sie globalisiert, politisch nicht. In der Ära des globalen Win-win-Handels funktionierte dies. Jetzt aber erleben wir die Rückkehr der Grossmachtpolitik. Das bedeutet zweierlei: Nach langer Zeit gilt erneut der Primat der Politik. Jeden Tag sehen wir, wie Firmenchefs bei Trump den Bückling machen. Und: Wirtschaftspolitik ist nicht mehr nur Wohlstands-, sondern auch Sicherheitspolitik. Das Zeitalter der Geoökonomie rüttelt am Schweizer Modell von wirtschaftlicher Verflechtung und politischer Isolation.
Die Schweiz ist zwar nicht Mitglied der EU und der Nato, aber keineswegs politisch isoliert.
Auch ohne Mitglied der EU und der Nato zu sein, kann man ein sehr guter Europäer sein. Die Schweiz ist es nicht. Das Verteidigungsbudget beträgt lächerliche 0,7 Prozent des BIP. Die Unterstützung für die Ukraine beträgt 0,12 Prozent des BIP, einen Bruchteil dessen, was andere europäische Länder leisten. Die Schweiz hat den Schuss immer noch nicht gehört. Sie drückt sich um den Beitrag, den ein Mitglied der freien Welt leisten muss. In Sachen Schweizer Sicherheitspolitik – aber nur in dieser Hinsicht – ist es gar nicht so falsch, wenn sich Donald Trump übervorteilt sieht.
Auch dieses alte Rosinenpicker-Argument ist doch längst widerlegt. Je nachdem, wie man rechnet und was man zum Beispiel zur Entwicklungshilfe dazuzählt, steht die Schweiz nicht so schlecht da, wie oft behauptet wird.
Klar, man kann an den Kennzahlen etwas rumschrauben. Aber selbst das hochverschuldete Belgien unterstützt die Ukraine pro Kopf mit einem sechs Mal so hohen Beitrag. Die Schweiz, das Land der Selbstverantwortung, verfolgt radikal seine eigenen Interessen und handelt damit verantwortungslos.
Jedes Land verfolgt radikal seine eigenen Interessen. Sonst macht die Regierung etwas falsch.
Sicher, aber nicht wenige Länder haben begriffen: Wer Frieden und Wohlstand in Europa will, muss zu seinem Vorteil ein paar Interessen der Nachbarn mitdenken. Zudem: Die Welt ist eine neue. Die globale Schutzmacht USA ist hoch verschuldet – sie hat keine Lust mehr, für ihr Imperium aufzukommen. Sobald Imperien straucheln, bitten sie die Vasallen zur Kasse. Viele Europäer sind ebenfalls in der Klemme: Sie müssen nun im Alleingang die Kosten des Ukraine-Kriegs schultern, obwohl einige Länder hoch verschuldet sind. Will die Schweiz nicht noch heftiger unter Druck kommen, sollte sie Vorschläge machen, wie sie Europa, Amerika und der freien Welt helfen kann.
Was könnte die Schweiz anbieten, abgesehen von höheren Geldbeiträgen?
Sie kann vorschlagen, die Kfor-Truppen in Kosovo aufzustocken, damit die Deutschen einen Teil ihrer Truppen abziehen und nach Litauen verlegen können; dort stellen sie eine Brigade, um Russland abzuschrecken. Die Schweiz kann in Genf ein grossangelegtes Zentrum gegen Desinformation aufbauen, im Sinne der offenen Gesellschaft. Die Schweiz kann die Entwicklungszusammenarbeit aufstocken, um den Ausfall der USA ein kleines bisschen zu lindern.
Befürworter einer Annäherung an die EU wittern nach Trumps Zollhammer Morgenluft. Wie sehen Sie das?
Ich wünsche mir, dass die Schweiz sich ihrer Tugenden besinnt und zu einem bodenständigen, radikalen Pragmatismus zurückfindet. Dazu gehört die Erkenntnis, dass unsere politische Heimat und unsere wirtschaftlichen Wurzeln hier in Europa liegen. Hier gibt es noch eine liberale Demokratie und eine Marktwirtschaft. In Amerika entwickelt sich ein Staatskapitalismus wie in China. Das ist weder unsere Art noch unsere Zukunft.
Die zentrale Frage lautet: Wie können wir bei einer Annäherung an die EU noch einigermassen souverän bleiben? Man weiss, der Mensch ist glücklicher, wenn er selber über sein Schicksal entscheiden kann. Durch die direkte Demokratie ist auch das Vertrauen in Regierung und Behörden in der Schweiz viel höher als in den meisten anderen Ländern.
Sind wir souverän, wenn wir uns noch stärker zu einem Vasallen der Amerikaner degradieren? Wir dürfen nicht hoffen, dass alles wieder gut wird, falls in drei Jahren ein Demokrat zum US-Präsidenten gewählt werden sollte. Er würde die Zölle als Hebel benutzen, um Konzessionen im Steuerbereich zu erhalten. Darum: Wir müssen uns jetzt der Erpressungsschlinge entziehen und «Stopp!» sagen.
Also nicht wie die EU, die Trump sehr stark entgegengekommen ist, um die 15 Prozent Zoll zu erhalten.
Die EU musste tatsächlich viele Konzessionen machen. Sie hatte keine Wahl, weil sie eine Mitverantwortung für die Ukraine und Europas Sicherheit trägt. Man kann nicht ein «chicken game» spielen mit einem Verhandlungspartner, auf den man auf der existenziellen Ebene der Sicherheitspolitik angewiesen ist. Die Schweiz hingegen trägt keine massgebliche Verantwortung für Europas Sicherheit, eigentlich nicht einmal für ihre eigene. Das heisst, wir können gegenüber Trump standhaft bleiben. Machen wir Konzessionen und werden damit noch abhängiger von den USA, wartet der Präsident mit der nächsten Erpressung auf. Deshalb: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Sie raten zur Eskalation? Das ist doch unverantwortlich. Als kleines, exportabhängiges Land kann die Schweiz nur verlieren.
Ich sage nicht, die Schweiz sollte eine Eskalation provozieren. Aber sie sollte gegenüber Trump nicht einknicken, also keine Konzessionen eingehen, um einen tieferen Zollsatz zu erhalten. Stattdessen müssen wir schauen, wie der Ausfall in Amerika kompensiert werden kann. Der Bundesrat sollte zum Beispiel genau analysieren, weshalb einzelne EU-Länder wie Luxemburg oder Irland in den vergangenen Jahrzehnten ein deutlich stärkeres Wirtschaftswachstum aufweisen als die Schweiz und uns beim BIP pro Kopf überholen. Offenbar kann man als EU-Mitglied durchaus wirtschaftlich erfolgreicher sein als die Schweiz.
Sie picken zwei Ausreisser heraus. Der Normalfall in der EU sieht anders aus.
Die beiden Länder zeigen, wie es geht, wenn man will. Wir haben vergessen, dass unser Wachstumspotenzial vor unserer Tür liegt. Wer den Euro nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert.
Sie argumentieren rein ökonomisch. Selbst wenn Sie damit recht hätten, dass es der Schweiz in der EU finanziell besser ginge, Souveränität und direkte Demokratie sind viel wert. Dass die Menschen das Gefühl haben, immer weniger mitbestimmen zu können, gilt als wichtiger Grund für den Aufstieg der Populisten in Europa.
Stimmt. Der – heute allerdings kaum eingelöste – Brexit-Spruch lautete: «Take back control.» Doch es ist meiner Meinung nach ein Fehlschluss, dass Freiheit und Souveränität innerhalb der EU nicht möglich seien. Luxemburg und Irland sind in der EU und nutzen den Spielraum, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Das könnte ein Weg für die Schweiz sein.
Sie haben kürzlich einen Text in der «FAZ» geschrieben unter dem Titel «Die Wiedergeburt Europas». Darin sagen Sie der EU angesichts der Weltlage eine blühende Zukunft voraus. Das tönt alles sehr nach Wunschdenken eines Europa-Enthusiasten.
Der Schweizer Blick auf die EU ist gleichzeitig zu emotional – es fehlt die innere Distanz – und zu intellektuell. Seit Jahrzehnten liest man in der Schweiz, der Euro werde auseinanderbrechen, weil dieser eine intellektuelle Fehlkonstruktion sei. In der Theorie stimmt das. Aber nur weil eine Idee in sich nicht schlüssig ist, bedeutet es nicht, dass sie in der Realität keinen Bestand hat. Die Praxis hebelt manche Theorie aus. Die Schweiz wie auch die Märkte unterschätzen immer wieder den politischen und wirtschaftlichen Willen, der hinter der europäischen Einigung steht.
In Ihrem Text kommen Sie angesichts des Rückzugs der USA zum Fazit: «Seit nur Europa für Europas Freiheit bürgt, haben autoritäre Antieuropäer jeglicher Couleur weder grosses Gewicht noch gute Aussichten.» Die letzten Wahlresultate zeigen etwas anderes.
Die AfD wird noch wachsen, denn Deutschland hinkt der Entwicklung hinterher. Im übrigen Europa, davon bin ich überzeugt, erreichen Populisten den Zenit. Vor allem wandeln sich einige. Marine Le Pens Rassemblement national wendet sich nicht mehr gegen die EU. Das gilt erst recht für die Italienerin Giorgia Meloni. Überhaupt ist es spannend, wie alles auf den Kopf gestellt wird, auch in Deutschland.
Was zum Beispiel?
Plötzlich ist eine Mehrheit der Deutschen, inklusive der Wähler der Grünen, für eine europäische Atombombe. Vor drei Jahren undenkbar! Bei CDU-Wählern ist eine Mehrheit für eine Aufweichung der Schuldenbremse, letztes Jahr waren sie noch dagegen. Die Linke steht für die WTO ein, man müsse das Welthandelssystem retten. Früher verteufelte sie die WTO als Vehikel des Kapitalismus. Alles ist im Wandel. Das lädt uns ein, die 1990er, 2000er und 2010er Jahre abzustreifen und die Dinge völlig neu zu denken, geopolitisch, aber auch innenpolitisch.
Joseph de Weck ist ein Schweizer Politologe und Historiker. Er ist Europa-Chef von Greenmantle, einem Beratungsunternehmen für Geopolitik, und Fellow am Institut Montaigne in Paris. 2021 erschien sein Buch «Emmanuel Macron: der revolutionäre Präsident».