Der Mediävist Valentin Groebner weiss, warum wir uns nach früher sehnen. Das Zürcher Frühlingsfest hält er für das Reenactment einer Vergangenheit, die es auf diese Weise nie gegeben hat.
Herr Groebner, wenn Sie an einen historischen Moment zurückreisen könnten, welcher wäre es?
Keiner. Ich bin Mittelalterhistoriker, aber kein Mensch, der seine sieben Zwetschgen beisammenhat, will in diese Zeit zurück. Das hat schlicht mit persönlicher Sicherheit und Hygiene zu tun. Niemand will wissen, wie die Schweizer Helden des 15. Jahrhunderts gerochen haben – ich auch nicht. Mein Bedürfnis nach möglichst echter, unmittelbarer Vergangenheit ist nicht sehr gross.
Und doch erforschen Sie, warum wir uns in der Schweiz nach genau diesem Mittelalter sehnen, es in unseren Altstädten und Volksfesten aufleben lassen. Warum tun wir das?
Wegen des 19. Jahrhunderts. Damals hat man so viel nahe Vergangenheit, die man vergessen will, dass man sich eine neue Fern-Vergangenheit zulegt. Die konfessionellen Bürgerkriege des 16. bis 18. Jahrhunderts, die Franzosenzeit, die 1840er mit ihren Toten und politischen Morden, dann der Sonderbundskrieg. Die Schweiz hat damals noch keine Erfolgsgeschichte. Sie sieht sich als armes Auswanderungsland, zerrissen von erbitterten religiösen Streitigkeiten.
Und um das zu überdecken, erfindet man sich ein idealisiertes Mittelalter.
Man sagt sich: Wir müssen uns gemeinsam erinnern – aber nicht an die Reformation und ihre Folgen. Also greift man auf das 14. Jahrhundert zurück, auf die bösen Österreicher – die Habsburger, die man damals besiegt hat. Damit das als Krisenbewältigung funktioniert, muss es aufgeführt, theatralisch inszeniert werden.
Valentin Groebner: der Nostalgie-Experte
sgi. Gäbe es einen Preis für den originellsten Mediävisten, Valentin Groebner würde ihn wohl gewinnen. Der Geschichtsprofessor an der Universität Luzern schreibt Bücher über das Ausmisten, Wilhelm Tell, visuelle Gewalt und den Trend, als Tourist an historisch bedeutsame Orte zu reisen. Immer wieder geht es dabei um die Art und Weise, wie wir uns an Vergangenes – besonders aus dem Mittelalter – erinnern. Groebner ist 1962 in Wien geboren und lebt seit 1991 in der Schweiz, zunächst in Basel, dann in Zürich und Luzern. Sein neues Buch «Gefühlskino» (Verlag S. Fischer, 2024) handelt unter anderem von seiner Jugend in den 1980ern.
Genau dann, Ende des 19. Jahrhunderts, ist auch das Sechseläuten in seiner heutigen Form entstanden, das bekannteste historische Fest der Stadt Zürich.
Es ist schon lustig. Damals sind die Zünfte – die Arbeitgeber und Hauseigentümerverbände der Vormoderne – gerade funktionslos geworden. Sie regieren die Stadt nicht mehr, nicht zuletzt, weil ab den 1860ern in Zürich alle wählen können. Aber sie versammeln weiterhin die Wirtschaftseliten. Und die sagen mit dem Sechseläuten: Wir definieren immer noch, was zürcherisch ist.
Das geschieht in einem Moment, in dem die Stadt durch Zuwanderung explodiert und sich unglaublich schnell verändert. Inwiefern hängt das eine mit dem anderen zusammen?
Zürich reisst in dieser Umbruchszeit ein ganzes mittelalterliches Quartier am See ab, das Kratzquartier. Und gleichzeitig wird die Erinnerung an das Frühere gepflegt wie noch nie. Es geht um den Wunsch nach einer starken Vergangenheit, nach einem Wir. Und in diesem Wir sollen die Zuwanderer nicht vorkommen, nicht die katholischen Fabrikarbeiter aus der Innerschweiz und erst recht nicht die Italiener.
Am Sechseläuten zieht der Zug der Zünfte durch die Stadt mit Pferden und Kostümen. Am Ende wird eine Strohpuppe verbrannt. Was ist das für eine Vergangenheit, die hier inszeniert wird?
Das Medium – die Prozession, der Umzug – ist tatsächlich mittelalterlich. Leute, die mit Fahnen, Kostümen und Abzeichen durch die Stadt marschieren und sagen: Wir sind die Tradition, wir verkörpern das Kollektiv – das ist eine sehr alte Form von politischer Machtdemonstration. Dabei geht es immer darum, das Zentrum des städtischen Raums zu besetzen. Und darum, zu zeigen: Wer ist die Show – und wer muss zuschauen.
Das moderne Sechseläuten entsteht zur selben Zeit wie die Bundesfeier auf der Rütliwiese am 1. August und der Umzug zum Tag der Arbeit am 1. Mai. Was war damals los, dass so viele Feste erfunden wurden?
Solche Anlässe sind Einladungen, Identifikationsangebote: Wo gehörst du hin? Damals formierten sich die politischen Zugehörigkeiten neu – mit Auswirkungen bis heute. Wenn man öffentliche Feste, Rituale, unsere ganze politische Symbolik anschaut, leben wir in einem sehr langen 19. Jahrhundert. Ganz viel, was in der Schweiz unseren Alltag prägt, beruht auf Modernisierungsschüben aus dieser Zeit: die Eisenbahn, Elektrizität, Trinkwasser, Kanalisation, ja sogar der Nationalstaat.
Wer das Sechseläuten feiert, feiert also eigentlich die moderne Schweiz?
Da feiert sich eine moderne Industriemetropole – die aber nicht sagen will, dass sie eine moderne Industriemetropole ist. Als ich 2003 nach Zürich gezogen bin, habe ich mir gedacht: Was ist denn das? Meine Freunde aus dem linksalternativen Milieu sagten: Das ist Kapitalisten-Fasching . . .
«Bonzen-Fasnacht» sagen manche auch.
. . . aber dafür ist es zu ernst, zu bewusst inszeniert. Das Interessante am Sechseläuten ist, dass es kein echtes Ereignis nachspielt. Es ist das Reenactment einer Vergangenheit, die es auf diese Weise nie gegeben hat.
Der Böögg zum Beispiel stammt von 1892.
Den brauchte es, weil die Symbolik aus dem Mittelalter – die Heiligen als Stadtpatrone, die Hostien – nicht mehr funktionierte. Sie war zu katholisch. Das ging in der Zeit nach der Reformation und der Gründung des liberalen Nationalstaats nicht mehr. Wobei: Explosiontechnologie und Theater tatsächlich schon von den Bettelorden des 13. und 14. Jahrhunderts verwendet wurden. Die haben eine grosse Show mit Pyrotechnik veranstaltet.
Warum denn das?
Gute Action. Es ging darum, in einer Welt ohne Massenmedien grosse Mengen an Leuten gut zu unterhalten.
Das heisst: Die Details am Sechseläuten sind erfunden und zusammengewürfelt. Als Ganzes enthält das Fest aber doch erstaunlich viel Mittelalterliches.
Man setzt aus modernen Elementen eine Art Über-Vergangenheit zusammen – eine, die «echter» wirken soll als die tatsächlichen Originale. Es ist wie bei der historischen Architektur des 19. Jahrhunderts. Wenn Sie etwas sehen, das sehr mittelalterlich aussieht – die Notre-Dame, das Landesmuseum, pittoreske Burgen –, dann ist es meist aus den 1870ern oder von später. Es wird nicht originalgetreu nachgebaut, sondern aus unterschiedlichsten Quellen zusammengesetzt, auf maximalen Effekt optimiert. Ein Stil, der sagt: Das echte Mittelalter ist uns zu mickrig, wir bauen uns ein eigenes. Und zwar aus Stahlbeton.
Bei gewissen Zürcher Zünften gibt es nun Bewegung: Erste Frauen dürfen mitlaufen, bei der Zunft zum Kämbel ist es ab diesem Jahr freiwillig, ob man sich das Gesicht braun anmalt. Es werden auch keine toten Fische mehr ins Publikum geworfen. Was sagen Sie dazu?
Ist schon schwierig. Man will eine eigene originale Tradition – aber eine, die zu den Empfindsamkeitsstandards des 21. Jahrhunderts passt.
Man sollte also gar nicht versuchen, das Fest zu reformieren?
Ich finde es erstaunlich, wie schwer sich vermeintlich innovative Gesellschaften im 21. Jahrhundert damit tun, etwas einfach sein zu lassen. Zu sagen: Jetzt hören wir auf.
Sie wollen das Sechseläuten abschaffen?
Ja – und die Basler Fasnacht gleich auch. Heute fragt man sich viel zu selten: Welche Art von Freiräumen entsteht, wenn man etwas aufgibt? Die Leute im 19. Jahrhundert haben sich in dieser Hinsicht richtig viel getraut. Die haben gesagt: Es geht nicht so weiter wie bisher. Lasst uns etwas Neues versuchen.
Wenn man sich von dieser Zeit inspirieren lassen will, müsste man demnach eine neue Tradition suchen, statt an der alten herumzubasteln?
Was würde passieren, wenn man in Zürich sagt: Wir nehmen historische Ereignisse aus dem 19., 20. oder 21. Jahrhundert und spielen die nach? Was würde passieren, wenn man zum Beispiel die Räumung des Autonomen Jugendzentrums Anfang der 1980er reinszeniert? Die Krawalle, die gewalttätigen Auseinandersetzungen – das war ein Konflikt, der Opfer gefordert, aber auch Lösungen gebracht hat. Er hat die Stadt nachhaltig verändert. Das könnte man doch als Material für eine neue Tradition nehmen.
Tatsächlich sind es heute ja nicht mehr die Zünfte, die in der Zürcher Politik Einfluss haben, sondern die Alt-Achtziger. Ist die 1.-Mai-Demo das neue Sechseläuten?
Das Prinzip ist bei beiden Veranstaltungen ähnlich. Es wird gesagt: Wir sind das Kollektiv. Wir sind das grosse Ganze. Schauen Sie: Ich bin in einem sozialdemokratischen Wohnungsbau in Wien aufgewachsen. Der 1. Mai war ein Festtag. Jedes Jahr konnte man an der Reihenfolge des Umzugs ablesen, wer in den Fraktionskämpfen der regierenden SPÖ gerade wichtig war. An allen öffentlichen Wohnungsbauten waren Halterungen montiert, damit die Parteimitglieder ihre roten Fahnen heraushängen konnten. Das ist das Wien der 1960er und 1970er, das das rote Wien aus den 1920ern wiederaufleben lässt. Selbst die militante Subkultur der 1980er hat dieses alte Fest der Arbeiterbewegung wieder aufgegriffen und versucht, sich als neue Avantgarde zu inszenieren. Jahr für Jahr, inklusive ritueller Auseinandersetzungen mit der Polizei. Das ist politisches Brauchtum – kostümierte Trachtengruppen inklusive.
Der 1. Mai und die Autonomen: Sie kennen das aus eigener Erfahrung. Wie man in Ihrem jüngsten Buch lesen kann, waren Sie als Student selbst in der linksextremen Szene unterwegs, haben Molotowcocktails geworfen und Polizisten angegriffen. Rückblickend nennen Sie sich einen «Idioten».
Oder einen romantischen Narziss. Aber ich misstraue meiner eigenen Erinnerung. Die Hoffnung, dass ein Zeitzeuge – und damit auch ich – einen objektiven Blick in die Vergangenheit ermöglicht, haben wir Historiker schon lange aufgeben müssen. Aber: Ich habe beim Aufräumen eine Schachtel entdeckt, voller Flugblätter von damals. Und die sind schon sehr merkwürdig.
Inwiefern?
Mir sind meine festen Überzeugungen von damals unheimlich – weil sie die selbstgegebene Erlaubnis für alles Mögliche waren. Das Reden über den unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang durch Atomkrieg und Umweltzerstörung war immer auch mit einer gewissen Lust gemischt. Aus beidem zusammen wurde eine Art emotionaler Supertreibstoff . . .
. . . der auch zu Gewalt führte.
Der Gewalt jedenfalls legitimierte – wie auch gute Musik und jede Menge Spass. Aber verantwortlich für die Folgen waren immer die anderen. Es ist diese Art von emotionaler Selbstgerechtigkeit, die heute bei mir sehr gemischte Gefühle erzeugt.
Sie beschreiben die Szene als brutal und selbstgerecht, voller Kinder aus gutem Haus, die sich als Proletarier inszenierten und Krawall als Klassenkampf verkauften.
Auch, aber nicht nur. Die Szene war heterogen, es gab viele Leute in den besetzten Häusern, die aus wirklich schwierigen Familien kamen. Was aber im Nachhinein klar wird: Die Autonomen waren alles Mögliche, aber sicher nicht autonom. Sie haben stark auf Medien, Politik und Pop-Kultur reagiert – und wollten dort wiederum Reaktionen auslösen.
Sich selbst als Opfer inszenieren, die Welt als verloren – und mit diesem Gefühl Politik machen: Diese Strategie, so Ihre These, ist ein Erbe der 1980er.
Ende der 1970er entstand in der Alternativbewegung ein sehr emotionalisiertes, subjektives Vokabular. Es ist wahr, weil ich das fühle: Das war das Prinzip, und es ist bis heute wirksam. Mittlerweile ist es so weit verbreitet, dass Linke es genauso verwenden wie ihre Gegner auf der Rechten. Das sind dann die Leute, die sich gerne zu Opfern von echtem oder vermeintlichem Meinungsterror stilisieren. Die sagen: «Man darf nichts mehr sagen! Wir sind verfolgt! Früher war alles besser!» Und es offensichtlich geniessen, dass endlich auch sie Opfer sein dürfen.
Wenn man Ihnen zuhört, bekommt man den Eindruck: Nostalgie ist für alle Rückwärtsgewandtheit verantwortlich, egal aus welchem politischen Lager. Ist das wirklich so ein schlimmes Gefühl?
Natürlich nicht. Aber das Reden über Verlust ist verlockend, weil man automatisch recht behält. Nostalgie hört nie auf, es wächst ständig neuer Stoff für sie nach, je mehr man darüber redet. Das zelebrierte Vermissen ist das Loch, der Verlust – und gleichzeitig das Pflaster, das man drauftut.
Es hat ja etwas Reizvolles, wenn man sich in der Endzeit einer grossen Epoche wähnen kann – dem «Spätkapitalismus», der «Spätmoderne».
Das traurige Ende der Moderne wird seit mindestens vierzig Jahren beklagt. Es ist schon sehr lange sehr spät. Und ich neige dazu, das als gar nicht so schlechte Nachricht aufzufassen.
Wenn es spät ist, ist es noch nicht vorbei.
Das wäre der perfekte Schlusssatz für mein letztes Buch gewesen.
Vor hundert Jahren hatten die Futuristen radikale Zukunftsvisionen. Sie lehnten alle Vergangenheitsnostalgie ab und wünschten sich eine durchtechnisierte Zukunft. Die Bewegung ging prompt im Faschismus auf. Hat das Beharren auf Vergangenem darum nicht auch etwas Gutes?
Erlösungsphantasien durch Beschleunigung sind nichts Nettes. Nostalgie kann da auch ein Schutzmechanismus sein – dagegen, dass man alle Institutionen in Asche legt.
Dann können wir uns darauf einigen: Wir behalten das Sechseläuten doch bei?
Für immer, in alle Ewigkeit? Ich bin froh, wenn ich darüber nicht entscheiden muss.