Am Sonntag werden in Hollywood die Oscars verliehen. Der Favorit zeigt die bombastischen Seiten von Wissenschaft. Das unterhält, vermittelt aber ein falsches Bild.
Christopher Nolan hat es wieder einmal geschafft. «Oppenheimer», das jüngste Werk des Filmregisseurs, ist nicht nur ein kommerzieller Erfolg, sondern überzeugt auch die Kritiker. Bei den Golden Globes gewann der Film fünf Trophäen, bei den British Academy Film Awards deren sieben, und bei den Oscar-Verleihungen vom Sonntag gehört er mit dreizehn Nominationen zu den Kronfavoriten.
Der Film erzählt die Geschichte des amerikanischen Physikers Robert Oppenheimer, des Leiters des Manhattan-Projekts zum Bau der ersten Atombombe. Und wie so oft, wenn ein Film auf den ersten Blick von Wissenschaft handelt, geht es um vieles, aber nicht um Wissenschaft.
Freilich, die üblichen Klischees bedient auch «Oppenheimer»: überall Wissenschafter, die in kürzester Zeit komplizierte Berechnungen vornehmen und aufwendige Experimente replizieren. Mittendrin das einsame Genie Oppenheimer, das einen fast schon übersinnlichen Zugang zu den Geheimnissen der Welt besitzt und in die Niederungen der Politik gezerrt wird, um die Welt zu retten. Und natürlich darf auch der Übervater aller Wissenschafterklischees, Albert Einstein, nicht fehlen.
In «Oppenheimer» dient die Wissenschaft nur als Kulisse
Bei vielen Blockbustern über Wissenschaft geht es nicht um Wissenschaft, sondern um die Folgen davon. Natürlich gehört das Verhandeln der Auswirkungen von Forschung zum festen und berechtigten Repertoire der künstlerischen Auseinandersetzung mit Wissenschaft. Die Geschichte der Atombombe eignet sich besonders gut dafür, weil sie die schlimmstmögliche Konsequenz wissenschaftlichen Schaffens vor Augen führt: die Zerstörung der Welt. Das hat vor einem halben Jahrhundert Friedrich Dürrenmatt in seinem Theaterstück «Die Physiker» wie kein Zweiter bewiesen. Meist aber bleibt die Wissenschaft selbst dabei nur Kulisse – das gilt auch für «Oppenheimer».
Insgesamt gelingt es dem Film zwar gut, die Zerknirschung Oppenheimers über die Konsequenzen seiner Arbeit zu dekonstruieren. Köstlich die Szene, in der der damalige Präsident Truman einen schuldgeplagten Oppenheimer anherrscht, den Menschen in Japan sei es «scheissegal», wer die Atombombe gebaut habe. «Bei Hiroshima geht es nicht um Sie», stellt Truman klar.
Im Film geht es trotzdem hauptsächlich um den Helden Oppenheimer. Es ist ein biografischer Film über einen Wissenschafter – und nicht über Wissenschaft. Zudem sagt der Film zwar «Wissenschaft», meint aber eigentlich «Technologie». Diese hat aber die konkrete Anwendung, nicht das allgemeine Verständnis, zum Ziel. Wissenschaft hingegen strebt lediglich nach Wissen. Das macht sie zu einem bescheidenen Geschäft – zumindest bescheidener als die Allmachtsphantasien von Politikern und Militärs, die – wie General Leslie Groves in «Oppenheimer» – im Bau der Atombombe das «wichtigste Ereignis in der Geschichte der Welt» sehen.
Die Natur lässt sich nur widerwillig befragen
Wissenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie nach theoretisch überzeugenden und empirisch nachweisbaren Beschreibungen der Welt strebt. «Kunst und Handwerk des wissenschaftlichen Experiments liegen in der geschickten Befragung der Natur», so beschreibt es die Autorin Joan Fisher Box in der Biografie über ihren Vater, den Statistiker Ronald Aylmer Fisher. Wobei sich die Natur nur sehr ungern befragen lasse: «Die Natur erscheint schwankend, scheu und zweideutig in ihren Antworten.» Sie reagiere bloss auf jene Fragen, die gestellt würden, und nicht auf jene, die man sich vorstelle; sie helfe nicht bei der Interpretation der Antworten und gebe freiwillig keine Informationen preis.
Nun befasst sich die Wissenschaft nicht nur mit der Natur, sondern auch mit menschengemachten Phänomenen. Auch deren Befragung scheitert nicht selten an der Wankelmütigkeit und Undurchdringlichkeit der Befragten. Nur wer detektivisches Gespür an den Tag legt und die richtigen Fragen stellt, kann darauf hoffen, der Wahrheit einen Schritt näher zu kommen.
Erstaunlich deshalb, dass der Krimi nicht schon längstens zum Wissenschaftsfilm par excellence avanciert ist. Denn von allen Filmgenres zeigt der Krimi eigentlich am besten, wie ein Kernelement wissenschaftlichen Arbeitens funktioniert: Es reicht nicht, einen Verdacht zu haben, man muss diesen Verdacht auch beweisen und konkurrierende Erklärungen ausschliessen können.
Wie in der Wissenschaft steht beim Krimi die Spurensuche im Vordergrund. Das Ergebnis ist nur der krönende Moment einer langen und sorgfältig durchgeführten Ermittlungsarbeit. Deshalb funktioniert ein Krimi sogar dann, wenn von Beginn weg klar ist, wer der Täter ist. So zum Beispiel in der Kultserie «Columbo», in der Peter Falk einen Mordkommissar in Los Angeles spielt. Wissend, wer der Mörder ist, können wir Schritt für Schritt mitfiebern, während Columbo die Hinweise sammelt, Ungereimtheiten findet und den Täter schliesslich entlarvt.
«Bei Anruf Mord» verpackt Methodisches spannend
Ein weiteres gutes Beispiel stammt vom Meister der Spannung, Alfred Hitchcock. Im Film «Bei Anruf Mord» plant Tony den Mord seiner Frau Margot, um an ihr Geld zu gelangen. Doch der Plan scheitert. Statt Margot liegt der angeheuerte Mörder tot auf dem Teppich. Was folgt, ist ein packendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Tony und dem Inspektor Hubbard. Schritt für Schritt sichert Hubbard die Spuren, die Tony zu verwischen sucht, und befragt Zeugen und Verdächtige, um Ungereimtheiten in ihren Geschichten zu finden.
Wie ein Wissenschafter stellt er dabei laufend neue Hypothesen zum Ablauf der Tatnacht auf, um sie gleich darauf zu testen. Tony scheint ihm dabei stets einen Schritt voraus zu sein, bis Hubbard sich ein geschicktes (und höchst wissenschaftliches) Experiment ausdenkt, mit dem sich der Täter schliesslich überführen lässt.
Kriminalistische Ermittlung bedeutet, Beweise zu erheben, Verdächtige zu befragen, Hypothesen zu testen. Damit ähnelt sie der wissenschaftlichen Methode. Umso erstaunlicher ist es, dass die Vermittlung von Wissenschaft viel zu oft an Blockbuster wie «Oppenheimer» erinnert, indem die beeindruckenden oder zumindest beeindruckend verpackten Resultate wissenschaftlicher Forschung in den Vordergrund gerückt werden. Der wissenschaftliche Prozess selbst bleibt dabei auf der Strecke.
Dabei lassen sich die wissenschaftlichen Resultate kaum einordnen, wenn man nicht weiss, wie sie entstanden sind. Genauso, wie ein Detektiv einen Fall von vielen verschiedenen Seiten und mit vielen verschiedenen Hilfsmitteln beleuchten muss, um dem Täter auf die Spur zu kommen, muss die Wissenschafterin eine wissenschaftliche Hypothese mehrmals und auf verschiedene Betrachtungsweisen unter die Lupe nehmen. «Strenges Testen» nennt das die Statistikphilosophin Deborah Mayo und sieht darin ein Kernelement dessen, was wissenschaftliche Resultate verlässlich macht.
Gegen die öffentliche Vermittlung von wissenschaftlichen Methoden wird oft eingewandt, dass es schon kompliziert genug sei, wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln. Bei wissenschaftlichen Methoden könne man es gleich vergessen. Doch «Bei Anruf Mord» und das Krimi-Genre im Allgemeinen zeigen, dass sich auch Methodisches spannend verpacken lassen. Und dass es nicht immer einen Weltuntergang oder Allmachtsphantasien braucht, um wissenschaftliches Denken zu vermitteln.
Es geht auch mit etwas Bescheidenheit. Wie der Inspektor Columbo, der sich immer als einfacher und leicht zu beeindruckender Mann präsentiert, der mehr zuhört als redet und der oft kurz vor seinem Abgang sagt: «Ich habe noch eine Frage.» Vielleicht sollten wir auch mehr fragen. Und mehr Krimis anschauen.