Was Eltern, Schulen und Jugendarbeit tun können.
Ein 15-Jähriger schwört dem Islamischen Staat die Treue und sticht in Zürich einen Juden nieder – für die Polizei kam diese Tat am Samstag aus dem Nichts. Der Jugendliche sei zuvor nie auf dem Radar der Behörden aufgetaucht, sagt der Sicherheitsdirektor Mario Fehr. Wie er sich derart radikalisieren konnte, ist ein Rätsel.
Fehr appelliert daher an die Gesellschaft, aufmerksamer zu sein und zu reagieren, wenn sich jemand auffällig verhalte. Denn natürlich dürfte es beim 15-Jährigen Anzeichen gegeben haben. Er habe keine Freunde gefunden und sei an der Schule durch Eruptionen von Ausfälligkeiten aufgefallen, sagten Verwandte und Mitschüler gegenüber «20 Minuten». Zudem habe er sich in kruden Online-Foren herumgetrieben.
Das wirft die Frage auf, welche sozialen Netze zum Tragen kommen könnten, wenn junge Leute in die Radikalität abdriften und alle anderen wegschauen. Eine mögliche Antwort geben die Ereignisse, die sich in einer Zürcher Oberländer Gemeinde zugetragen haben.
Dort kippt 2019 im Jugendhaus innert weniger Wochen die Stimmung. Eine Gruppe muslimischer Jugendlicher beginnt, mit Parolen des Islamischen Staats um sich zu werfen. Sie sympathisieren offen mit der Terrororganisation und provozieren Gleichaltrige und die Jugendarbeiter mit extrem schwulenfeindlichen Aussagen.
Den Habitus haben sie nicht von ihren Eltern übernommen, sondern von Filmen im Internet abgeschaut. Sie wollen sich damit unter Gleichaltrigen profilieren. Viele Jugendliche reagieren verstört, bleiben dem Jugendhaus fern, es bilden sich zwei Lager.
Die Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter sprechen die muslimischen Jugendlichen immer wieder auf ihr Verhalten an, haken nach, halten dagegen. Dann laden sie an einem Freitagabend einen Imam ins Jugendhaus ein, der darüber spricht, was der Islam ist und welche Folgen seine extremistische Formen haben können. Tatsächlich tauchen mehrere Dutzend Jugendliche aus beiden Lagern auf, hören zu, stellen Fragen. Danach beruhigt sich die Lage.
Prävention wird oft an den Jugendlichen vorbei gemacht
Für den Jugendarbeiter Marco Bezjak, der diese Geschichte erzählt, liegt auf der Hand, warum dieses Vorgehen funktioniert hat: weil das Interesse von den Jugendlichen selbst ausging und Erwachsene daran anknüpfen konnten. Allzu oft funktioniere Prävention genau umgekehrt, top-down statt bottom-up. Erwachsene erkennen ein akutes Problem, reagieren mit einem Projekt und versuchen dann, damit bei den Jugendlichen zu landen. Über die Schulen, via Medien oder über soziale Netzwerke – oft mit überschaubarem Erfolg.
Bezjak ist Präsident der Stiftung für Kinder- und Jugendförderung (Mojuga) und doziert an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften über Prävention bei delinquenten Jugendlichen. Er ist überzeugt, dass die Jugendarbeit eine zentrale Rolle spielt, wenn es darum geht, rechtzeitig auf extremistische Tendenzen aufmerksam zu werden.
«Radikalisierende Bewegungen beherrschen es perfekt, Jugendlichen das Gefühl zu geben, dass sie wichtig sind; zunächst ohne jede Verpflichtung», sagt Bezjak. «Sie sind dadurch im Vorteil gegenüber Erwachsenen, die in der Regel nur dann auf Teenager zugehen, wenn sie etwas von ihnen wollen.»
Jugendarbeiter versuchen diese Falle zu vermeiden: Sie bauen über lange Zeit eine Beziehung zu den Jugendlichen auf und interessieren sich für sie, ohne ein bestimmtes Interesse zu verfolgen. So gewinnen sie deren Vertrauen, bekommen vieles mit und können bei Problemen früh reagieren. Dennoch leisten sich manche Zürcher Gemeinden gar keine Jugendarbeit oder finanzieren nur ein Kleinstpensum.
«Ich habe kein stufengerechtes Unterrichtsmaterial gefunden»
Lehrerinnen und Lehrer sollten ebenfalls reagieren, wenn Probleme auftauchen auf dem Pausenplatz oder im Klassenzimmer. Judenwitze, antisemitische Sprüche, rassistische Parolen – was kann man dagegen tun? Und wie häufig kommt es dazu?
Das Stadtzürcher Schuldepartement teilt mit, dass es an den Primar- und Sekundarschulen «nur vereinzelt» zu antisemitischen Vorfällen komme. Daran habe auch der Terrorangriff der Hamas vom vergangenen Oktober nichts geändert. Themen wie Antisemitismus, Fundamentalismus und Toleranz gegenüber religiösen und kulturellen Minderheiten würden im Unterricht behandelt. Für die Oberstufe sei das im Lehrplan 21 ausdrücklich so vorgesehen.
Fragen stellen sich trotzdem. Ein Primarlehrer aus dem Kanton Zürich sagt zur NZZ: «Ich wollte mit meinen Sechstklässlern das Thema Antisemitismus in der Schweiz behandeln, aber ich habe kein stufengerechtes Unterrichtsmaterial gefunden.» Nach der Attacke vom Samstag sei ihm erst recht klar geworden: «Jetzt gibt es Handlungsbedarf.»
Der Mann, der anonym bleiben will, hat selber einen jüdischen Hintergrund. Sorgen bereiten ihm nicht zuletzt Bilder, die in Whatsapp-Chats seiner Schüler und auch seiner eigenen Kinder kursieren – zum Beispiel verharmlosende Hitler-Porträts aus einem populären Videogame, versehen mit dem zynischen Zusatz «6 Million Kills». Viele Primarschüler dürften kaum verstehen, dass mit dieser Zahl die jüdischen Opfer des Holocaust verhöhnt werden.
Für den Primarlehrer ist das ein No-Go. «Das Böse wird wie selbstverständlich banalisiert. Das dürfen wir nicht hinnehmen», sagt er. Antisemitismus sei bereits unter Sechstklässlern ein Thema. Der Lehrer wünscht sich einen Workshop, der aufzeigt, wie Pädagogen und Eltern reagieren sollen, wenn sie von solchen Dingen erfahren.
Verhält sich das Kind plötzlich anders?
Was Eltern tun können, wenn sich ihre Kinder zu radikalisieren drohen, zeigt die nationale Kampagne Jugend und Medien auf. Es beginnt damit, die Zeichen richtig zu deuten: Provokationen mit kontroversen Aussagen, Gewaltandrohungen, Verschwörungstheorien, plötzliche Verhaltensänderungen, aggressive Reaktionen auf andersdenkende Jugendliche – das alles könnten Hinweise sein. Auch, wenn das Kind sein Verhalten als blosses Spiel zu verharmlosen versucht.
Eltern sollten nicht aggressiv reagieren, aber konsequent, heisst es in der Kampagne weiter. Sie müssten etwa klarstellen, dass Gewalt durch nichts zu legitimieren sei. Und unbedingt versuchen, im Gespräch zu bleiben. Wenn sie Zweifel daran haben, wie gravierend das Problem ist, sollten sie sich an Beratungsstellen oder die Polizei wenden.
Wenn die Jugendanwaltschaft eingeschaltet wird, bietet die Psychiatrische Universitätsklinik in Zürich ein besonderes Therapieprogramm an. Um Jugendliche vom Pfad der Radikalisierung abzubringen, wird dort unter anderem nach den Auslösern geforscht. Zudem werden – allenfalls mit den Eltern – alternative Zukunftsperspektiven entwickelt.
Vorurteile zur Sprache bringen – auch über Schweizer
Projekte für Schulen wiederum, die Kindern und Jugendlichen Themen wie Antisemitismus, Islamismus oder schleichende Radikalisierung näherbringen wollen, gibt es mehrere. Die Pädagogische Hochschule Zürich etwa hat vor kurzem eine Website mit Tipps zum Nahostkonflikt im Schulunterricht aufgeschaltet, auch für die Primarstufe. Dort heisst es zum Beispiel: «Es gilt zu vermeiden, dass muslimische oder jüdische Kinder durch negative Zuschreibungen stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Die Folge solcher Ausgrenzungen können aggressives und protestierendes Verhalten oder Rückzug sein.»
Die Zürcher Stiftung Erziehung zur Toleranz führt unter anderem einen Online-Kurs gegen Rassismus und Hate-Speech im Angebot, den Sekundarschülerinnen und -schüler selbständig absolvieren können (ToleranzOn). Die Plattform hält auch Lehrmaterial für den Unterricht und für Übungen in der Klasse bereit. Nach den Frühlingsferien soll ein weiteres Format zum Thema Antisemitismus bereitstehen. Zielgruppe: Fünft- und Sechstklässler, wie Urs Urech, der Geschäftsleiter der Stiftung, sagt.
Urech hat auch bei den sogenannten Zitatkarten der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus mitgearbeitet. Diese sollen helfen, Vorurteile gegenüber Jüdinnen und Juden aus der Welt zu schaffen, wenn solche Klischees herumgeboten werden unter Schülerinnen und Schülern. Urech sagt: «Man muss das ernst nehmen, man darf das thematisieren, ohne zu dramatisieren.»
Am besten sei es, wenn im gleichen Gespräch auch andere Vorurteile besprochen würden: über Muslime, Schweizer, dicke Menschen oder Brillenträger zum Beispiel. «So erweitert man den Kreis der Betroffenen – und gibt den Jugendlichen zu verstehen, dass niemand gern auf ein Klischee reduziert wird.»