Die Wahlerfolge der AfD führen zu besorgten Fragen. Haben die Deutschen die Lehren der Geschichte vergessen? Wiederholt sich das Szenario, das zum Untergang der Weimarer Republik geführt hat? Die Antwort ist Nein: Berlin ist nicht Weimar.
Hans Frank, der im Oktober 1946 in Nürnberg als einer der Hauptkriegsverbrecher hingerichtete ehemalige Generalgouverneur von Polen, schleuderte dem Gerichtspsychologen in seiner Todeszelle einen bemerkenswerten Satz entgegen. Als er erfuhr, dass der frühere Reichskanzler von Papen freigelassen und kurz darauf wieder verhaftet worden war, rief er: «Sie dachten, Sie seien frei! Wissen Sie denn nicht, dass es keine Freiheit vom Hitlerismus gibt?»
Der Ruin von 1945 war kräftig, die politische und moralische Katastrophe des «Dritten Reiches» nachhaltig. Bis heute kann sich in Deutschland niemand, der im politischen Diskurs ernst genommen werden will, auf Hitler berufen. Das weiss auch die AfD, die gern mit nationalistischen Ressentiments spielt. Um den Nationalsozialismus machen ihre Exponenten in öffentlichen Äusserungen einen weiten Bogen. Ambivalenzen lassen sie freilich bewusst zu.
Die Wahlerfolge der AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen haben in Deutschland und weit darüber hinaus zu besorgten Fragen geführt. Das hat viel mit Hitlers Erbe und der Gegenwart des Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein zu tun. Haben Deutschlands Wähler die Lehren der Geschichte vergessen? Haben wir es mit neuen Nazis zu tun? Wiederholt sich das Szenario, das zum Untergang der Weimarer Republik geführt hat?
Die Schwäche der Regierenden
Die Antwort auf diese Fragen muss bei einer Analyse des Wählerverhaltens einsetzen. Sie muss nach dem Verhältnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft zum Nationalsozialismus fragen. Und sie muss die oft in die Debatte geworfenen Analogien zwischen der heutigen Berliner Republik und der Weimarer Republik kritisch betrachten.
Die AfD ist zunächst und vor allem eine Protestpartei, die Migration und innere Sicherheit thematisiert. Sie nimmt gezielt die Ratlosigkeit der etablierten Parteien in den Fokus, die auf diese Themen keine Antwort finden. Das grosskoalitionäre Konsensregieren und die Weigerung der Ampelregierung, Missstände, etwa bei der Überforderung der Kommunen, beim Namen zu nennen, haben den Aufstieg begünstigt.
Hitlers Schatten hat die Bundesrepublik von Anfang an begleitet. Mit dem zeitlichen Abstand vom Krieg ist die Intensität der Auseinandersetzung gestiegen und hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren auf hohem Niveau eingependelt. Allerdings oft auf eine starre, ritualisierte Weise. Es hat eine Zeit gedauert, bis die Deutschen nach dem Krieg zu den «guten Deutschen» der Bundesrepublik werden konnten.
Das Leben mit Lebenslügen war ein Preis, um den Umgang miteinander wieder zu lernen. Erst als die Generationen, die durch eigenes Handeln in die NS-Zeit verstrickt waren, ins Rentenalter eintraten, wurde die Zurückhaltung bei der Thematisierung von individuellen Nazivergangenheiten abgelegt.
Die Unfähigkeit der AfD
Nach der Katastrophe zeigte Deutschland ein «Musterschülerverhalten». Man bemühte sich, das liberalste, toleranteste und beste Deutschland zu werden, das es in der Geschichte je gab. Meinungsembargos waren die Konsequenz. Jemanden der Apologie des Nationalsozialismus zu beschuldigen, war und ist die wirksamste Methode, um eine Debatte zu beenden.
Die AfD-Führung weiss das. Und hat bisher wenig Anhaltspunkte geliefert, die als Verteidigung des Nationalsozialismus hätten gewertet werden können. Die unhaltbare Einlassung des AfD-Spitzenkandidaten Krah bei den Wahlen ins Europäische Parlament, der die SS verharmloste, bildet eine Ausnahme.
Was hinter verschlossenen Türen gesagt wird, kann nur vermutet werden. Klar erkennbar ist allerdings, dass sich die Partei zunehmend radikalisiert. Im europäischen Massstab hat sie sich so weit nach rechts bewegt, dass Giorgia Meloni und Marine Le Pen die Zusammenarbeit mit ihr aufgekündigt und die AfD-Abgeordneten aus der gemeinsamen Fraktion im Europäischen Parlament ausgeschlossen haben.
Der eigentliche Skandal aber ist die Unfähigkeit der AfD, in den Parlamenten und bei öffentlichen Anlässen würdige Worte der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus zu finden, der unanständige Versuch, diejenigen, die dem Nationalsozialismus widerstanden haben, für eigene politische Zwecke zu instrumentalisieren und die Unfähigkeit, die Verbrechen des Regimes – allen voran den millionenfachen Mord an den Juden – eindeutig zu benennen und als Teil von Deutschlands Erinnerungskultur zu begreifen.
Die brüchige Republik
Wenn fast ein Drittel der Wählerinnen und Wähler in Sachsen und Thüringen heute der AfD ihre Stimme gegeben haben, so haben sie dies wohl auch unter billigender Inkaufnahme dieser Vergangenheitsvergessenheit getan. Das ist allerdings auch ein beunruhigendes Zeichen dafür, dass das öffentliche Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus vielfach zum blossen Ritual geworden ist. Und es weckt Zweifel, ob die Geschichtswissenschaft und die Schulen den Auftrag noch erfüllen: das Wissen um die Geschichte und die Verbrechen des «Dritten Reiches» zu vermitteln und die Sensibilität für die Verantwortung zu schaffen, die sich damit für Deutschland verbindet.
Dabei ist es nicht so, dass die eigene Geschichte in den politischen Debatten Deutschlands keine Rolle spielen würde, im Gegenteil: Vergleiche mit der Weimarer Republik sind leicht zur Hand. Weimar musste in der Bundesrepublik immer wieder als Alibi herhalten, wenn ein Schreckgespenst an die Wand gemalt werden sollte. Nur, die Ausgangslage in der Weimarer Republik war von der heutigen Situation sehr verschieden.
In Weimar wurde die Mitte zusehends marginalisiert und war am Ende Niemandsland. Links- und rechtsradikale Parteien hatten sich gegenseitig hochgeschaukelt. Weimar war eine «Republik ohne Republikaner». Die seit 1930 auf der Grundlage von Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung gebildeten Präsidialkabinette hingen fast ausschliesslich an der Gunst des Reichspräsidenten. Dies war die Folie für den dramatischen Aufstieg des Nationalsozialismus und die legale Revolution der «Machtergreifung» im Januar 1933.
Hitler hatte ihr mit seiner «Bewegung» vorgearbeitet. Er hatte das Gros der Kleinbürger und der Beamten auf seiner Seite. Sein Programm fand bei den Industriekapitänen und bei den ungelernten Arbeitern gleichermassen Zuspruch. Die Krise der Weimarer Republik vollzog sich auf der Folie einer internationalen Wirtschaftskrise. Und sie hatte viel mit den besonderen Bedingungen von Deutschlands Lage nach dem Ersten Weltkrieg zu tun, vor allem mit der in weiten Teilen der Bevölkerung als Hypothek empfundenen Niederlage.
Das Menetekel
Die Bundesrepublik hat von Anfang an die Lehren gezogen. Alle im Grundgesetz enthaltenen verfassungsrechtlichen Vorkehrungen sind Antworten auf das Scheitern der Weimarer Republik: die Fünfprozentklausel, die dem Parlament Stabilität geben soll, das konstruktive Misstrauensvotum, der Verzicht auf das Selbstauflösungsrecht des Parlaments und die Abwahl von Ministern, die in ihren Befugnissen reduzierte Rolle des Bundespräsidenten, die Stärke der Länder, die Ewigkeitsklausel und herausgehobene Stellung der Grundrechte.
Zu den Stärken der deutschen Demokratie gehört auch die Fähigkeit, politische Entscheidungen auf einer breiten Basis zu vollziehen. Die Neigung zum Konsens und das Regieren mit parteiübergreifenden Koalitionen hat freilich ihren Preis: die Tendenz zum kleinsten gemeinsamen Nenner, die Unfähigkeit zu grundlegenden Reformen und die Selbstzufriedenheit, mit der die Spitzen von Staat und Gesellschaft den Status quo zelebrieren. Auch die Schwierigkeit, Kritik zu akzeptieren, und die Neigung, bei Konflikten rasch das Schild «Die Demokratie ist in Gefahr» hochzuhalten, sind mit dem historischen Trauma Deutschlands zu erklären.
Das Ende Weimars und der Aufstieg Hitlers sind und bleiben ein Menetekel. Doch die gegenwärtige politische Krise hat völlig andere Ursachen als die, die zur Auflösung der Weimarer Republik geführt haben: Sie ist in erster Linie auf das Versagen der Staatsspitzen zurückzuführen, das hilflose Management der Ampel-Bundesregierung und auf die Unfähigkeit des Parlaments, auf die drängenden Probleme angemessene Antworten zu finden.
Die Abwendung der Bevölkerung von den etablierten Parteien ist die Folge. Der Schaden, den der Einzug der AfD in immer mehr Parlamente auf allen Ebenen innenpolitisch anrichtet, betrifft zunächst die Koalitionsoptionen bei Regierungsbildungen. Der Schaden, den die AfD in den auswärtigen Beziehungen anrichten kann, ist immens und geeignet, die Stellung Deutschlands in der Welt erheblich zu beeinträchtigen. Dass dies so ist, hängt wesentlich mit Hitlers langem Schatten und der dauerhaften Präsenz des Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein zusammen.
Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.