Marktturbulenzen in Grossbritannien haben böse Erinnerungen an die Krise unter Liz Truss geweckt. Der Spielraum der Labour-Schatzkanzlerin Rachel Reeves schwindet. Droht dem Land nun statt Investitionen ein happiges Sparprogramm?
Vor wenigen Tagen publizierte die Boulevardzeitung «Daily Star» eine für Rachel Reeves wenig schmeichelhafte Titelseite. «Sollen wir einen neuen Salat holen gehen?», lautete die rhetorische Frage vor einem Bild, das die britische Schatzkanzlerin als Kopfsalat zeigt. Die Anspielung war ebenso bösartig wie eindeutig: 2022 hatte die damalige konservative Premierministerin Liz Truss derart schwerwiegende Turbulenzen an den Finanzmärkten provoziert, dass ihre Tage als gezählt galten. Die Redaktion des «Daily Star» inszenierte einen Wettlauf zwischen Truss und einem Kopfsalat – wobei die Premierministerin ihr Verfallsdatum schneller erreichte als das Gemüse.
Tuesday’s front page: Should we be popping out for another lettuce?#TomorrowsPapersTodayhttps://t.co/EZAzVIpBJi pic.twitter.com/jpj6y2Noku
— Daily Star (@dailystar) January 13, 2025
Anleger verlangen höhere Schuldzinsen
Reeves Tage als Finanzministerin sind nicht gezählt. Premierminister Keir Starmer trat Spekulationen entgegen, eine Entlassung der Schatzkanzlerin stehe bevor. Doch dass der Vergleich mit Truss und dem Kopfsalat überhaupt fiel, zeugt von erheblichen Problemen. Im Unterhaus musste sich Reeves vom finanzpolitischen Sprecher der konservativen Opposition, Mel Stride, mit einer Figur aus einer Shakespeare-Tragödie vergleichen lassen – verbunden mit dem Vorwurf, sie habe mit ihrer Misswirtschaft Marktturbulenzen ausgelöst.
Tatsächlich liessen die Finanzmärkte in der letzten Woche Erinnerungen an die Truss-Krise wach werden. Die Zinsen für zehnjährige britische Staatsanleihen stiegen auf über 4,9 Prozent, wobei sie zuletzt wieder sanken. Auch wenn sich die Lage etwas beruhigt hat, stehen die Bondrenditen auf dem höchsten Stand seit der Finanzkrise von 2008. Sie liegen damit auch höher als im Herbst 2022, als Truss mit ihren Plänen für ungedeckte Steuersenkungen die Märkte aufschreckte. Allerdings war das Chaos damals wesentlich grösser, weil die Bondrenditen nicht wie heute kontinuierlich, sondern innert weniger Tage sprunghaft anstiegen und das Pfund dramatisch an Wert verlor.
Im Unterhaus wies Reeves Vergleiche mit Truss zurück und betonte, die derzeitigen Entwicklungen beschränkten sich nicht auf Grossbritannien. Tatsächlich sind die Zinsen für langfristige Staatsanleihen auch in den USA und anderen Ländern gestiegen. Als Grund für die Nervosität gelten Inflationsängste, hohe Staatsschulden sowie die Unsicherheit vor dem Amtsantritt von Donald Trump.
Doch in Grossbritannien haben die Bondrenditen stärker zugenommen als in anderen Ländern. Zudem schwächelt das Pfund, das gegenüber dem Dollar auf den tiefsten Wert seit Oktober 2023 sank. Während die amerikanische Wirtschaft wächst, verzeichnet Grossbritannien ein Nullwachstum. Daher widerspiegelt die Nervosität an den Finanzmärkten im Falle Grossbritanniens auch eine zusätzliche Skepsis der Anleger gegenüber der Finanzpolitik von Reeves.
Umstrittener Staatshaushalt
Die Schatzkanzlerin hatte Ende Oktober ihren ersten Staatshaushalt präsentiert, der trotz der prekären Finanzlage des Landes jährliche Zusatzinvestitionen von rund 70 Milliarden Pfund (78 Milliarden Franken) vorsieht. Das Geld soll ins marode Gesundheitssystem, die Infrastruktur oder in höhere Löhne für Staatsangestellte fliessen. Finanziert werden sollen die Mehrausgaben etwa zur Hälfte durch neue Steuern und neue Schulden: So bittet die Regierung mit einer Erhöhung der Lohnabgaben die Arbeitgeber zur Kasse und lockert die Defizit-Regeln, welche die staatliche Neuverschuldung begrenzen.
Doch Reeves könnte den Bogen überspannt haben. Denn wenn die Zinsen für Staatsanleihen nicht bald wieder spürbar sinken, nehmen die Kosten für die geplante Neuverschuldung dramatisch zu. Im März wird das unabhängige Office for Budget Responsibility die Finanzlage neu beurteilen, wobei die hohen Schuldzinsen den finanziellen Spielraum der Regierung zunichtezumachen drohen.
Bereits gibt es Gerüchte über ein Notbudget. Im Bemühen, die Märkte zu beruhigen, schloss Reeves eine weitere Lockerung der Defizitregeln kategorisch aus. Zudem beteuerte sie, Labour plane keine weiteren Steuererhöhungen. Statt Investitionen in die Infrastruktur dürfte Grossbritannien daher ein schmerzhaftes Sparprogramm blühen. Bereits warnen Exponenten des linken Labour-Flügels vor einer Rückkehr der Austeritätspolitik.
Unternehmen haben kein Vertrauen
Zunehmend verzweifelt versucht Reeves, jenes erhoffte Wirtschaftswachstum herbeizureden, das ihren finanzpolitischen Spielraum vergrössern und Investitionen in die Infrastruktur erlauben würde. Doch Umfragen zeigen, dass das Vertrauen vieler Unternehmer angeschlagen ist. Rupert Soames, der Vorsitzende der Confederation of British Industry, erklärte jüngst gegenüber der BBC, das von Reeves propagierte Paket aus höheren Lohnabgaben, gestiegenem Mindestlohn und ausgebautem Kündigungsschutz hindere die Firmen daran, Investitionen zu tätigen und Mitarbeiter einzustellen.
Für Reeves gibt es derzeit bloss zwei Lichtblicke: Einerseits die leicht gesunkene Inflation, die Hoffnungen auf eine Leitzinssenkung durch die Bank of England nährt. Und andererseits Liz Truss: Die konservative Ex-Premierministerin, die bei den Wahlen im Juli auch ihren Sitz im Unterhaus verlor, drohte der Labour-Regierung letzte Woche offiziell mit einer Verleumdungsklage, sollte sie weiterhin behaupten, Truss habe die Wirtschaft an die Wand gefahren. Mit ihren Interventionen erinnert Truss die Bevölkerung regelmässig daran, dass Grossbritannien vor nicht allzu langer Zeit unter konservativer Führung noch dramatischere Zeiten durchlebte als derzeit unter Labour.