Seit dem Brexit-Referendum von 2016 hat sich die Zuwanderung verdoppelt. Der neuen Regierung von Keir Starmer wird es nicht leichtfallen, eine politische Antwort auf die Unruhen und die regionalen Ungleichheiten zu finden.
Die Krawalle in den englischen Städten sind jüngst etwas abgeflaut. Die Repression hat eine abschreckende Wirkung entfaltet, auch wenn die Behörden vor einem Wiederaufflammen der Unruhen am Wochenende warnen. Offen ist, was Premierminister Keir Starmer tut, sobald die Brandherde gelöscht sind. Der konservative «Daily Telegraph» empfahl ihm in einem Leitartikel, sich ein Vorbild an Margaret Thatcher zu nehmen. Auch die konservative Premierministerin setzte nach Unruhen in Migrantenquartieren 1981 zuerst auf Repression. Dann aber lancierte sie Projekte zur Regeneration von Problemvierteln etwa in den Londoner Docklands.
Rekordhohe Migration
Analog dazu fordert der «Daily Telegraph» von Starmer nun einen Plan zur Kontrolle der legalen und der illegalen Migration, die das Blatt als Haupttreiber für die derzeitigen Unruhen sieht. Laut einer neuen Umfrage bezeichnet eine Mehrheit der Britinnen und Briten die Zuwanderung erstmals seit 2016 wieder als dringendstes Problem des Landes.
2016 war das Versprechen, die Kontrolle über die Grenzen zurückzuerlangen, einer der Hauptgründe für das Brexit-Votum gewesen. Doch die Zahl der irregulär einreisenden Bootsmigranten im Ärmelkanal ist seit dem EU-Austritt angestiegen. Unter Migranten und Anwälten sprach sich schnell herum, dass Grossbritannien ohne Beteiligung am Dublin-System keinerlei Rechtsgrundlage mehr hatte, um bereits in der EU registrierte Asylbewerber nach Kontinentaleuropa zurückzuschicken.
Da die im Juli abgewählte konservative Regierung eine Reduktion der Zahlen versprochen hatte, plante sie gemäss dem Prinzip Hoffnung zu wenig Asylunterkünfte. Als Folge davon mussten Tausende von Asylsuchenden in Hotels untergebracht werden. Das kostete die Steuerzahler 8 Millionen Pfund pro Tag und sorgte bei der Bevölkerung ebenso für Unmut wie der Kontrollverlust am Ärmelkanal. Viele dieser Hotels befinden sich in unterprivilegierten Gegenden, weil dort die Übernachtungskosten günstiger sind.
Viel stärker ins Gewicht fällt aber die legale Migration: Im Rekordjahr 2022 kamen knapp 46 000 Bootsmigranten ins Land, während 1,3 Millionen Menschen ganz legal nach Grossbritannien einwanderten. Seit dem Ende der EU-Personenfreizügigkeit hätte Grossbritannien hier alle Steuerungsmöglichkeiten in der Hand. Doch da die Wirtschaft, das Gesundheitswesen und die Universitäten noch immer Ausländer in hoher Zahl ins Land holen können, schlägt die legale Nettozuwanderung alle Rekorde und ist nun doppelt so hoch wie vor dem Brexit-Referendum.
Kein «Burkaverbot»
Der erst seit einem Monat amtierende Starmer hat im Wahlkampf erklärt, die Zuwanderung sei zu hoch. Wie und in welchem Umfang er sie reduzieren will, ist aber völlig offen. Der Premierminister hat angekündigt, alle Hotels für Asylsuchende innert eines Jahres mit anderen Unterkünften zu ersetzen. Politisch nützen dürften ihm überdies die noch von den Tories erlassenen Visa-Verschärfungen, welche die legale Migration bereits dämpfen. Erst eine vage Idee ist derweil Starmers Ausbildungsoffensive, die dazu führen soll, dass vermehrt einheimische Arbeitskräfte die Bedürfnisse der Wirtschaft stillen.
Grossbritannien, dessen Empire einst einen Viertel der Welt umfasste, sah sich lange als multikulturelles Land, das Migranten keine Assimilierung abverlangte. Dies hat zur Herausbildung von Parallelgesellschaften geführt und zu den identitätspolitischen Spannungen beigetragen, die seit dem Ausbruch des Gaza-Krieges verstärkt hochkochen.
Gemäss der jüngsten Volkszählung sind rund 84 Prozent der Bevölkerung in England und Wales weiss. Gut 9 Prozent werden als asiatischstämmig bezeichnet, 4 Prozent als schwarz und knapp 3 Prozent als gemischt. Die meisten Muslime stammen aus den ehemaligen südasiatischen Kolonien Indien, Pakistan und Bangladesh. In muslimisch geprägten Gegenden tragen viele Männer einen Bart und einen Kaftan, während manche Frauen mit Schleiern ihr Haar oder ihr ganzes Gesicht verhüllen.
Das mag manche Leute befremden, doch gegen Recht und Ordnung verstösst das nicht: Bis anhin herrschte ein breiter Konsens, dass ein «Burkaverbot» nicht zum liberalen britischen Staatsverständnis passt. Selbst die Rechtspartei Reform UK von Nigel Farage, die den «Schutz der britischen Kultur, Identität und Werte» propagiert, hat noch keine solche Forderung erhoben.
Ein Reizthema ist die Kriminalität. Wie Brian Bell, Wirtschaftsprofessor am Londoner King’s College, gegenüber der «Financial Times» ausführte, werden Ausländer insgesamt nicht häufiger kriminell als Briten. Allerdings wiesen Asylsuchende leicht erhöhte Kriminalitätsraten bei Diebstählen und Einbrüchen auf. Diese Werte seien vergleichbar mit jenen der ärmsten Schicht der einheimischen Bevölkerung.
Ein Blick auf die offiziellen Kriminalitätsstatistiken zeigt überdies, dass asiatischstämmige Einwohner gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil unterdurchschnittlich oft wegen Delikten angeklagt werden. Überdurchschnittlich oft angeklagt werden schwarze Anwohner, von denen viele aus den ehemaligen Kolonien in der Karibik stammen und christlichen Glaubens sind.
Benachteiligte weisse Unterschicht
Sieben der zehn ärmsten Gemeinden Englands haben in den letzten Tagen gewaltsame Unruhen erlebt. Auch vor diesem Hintergrund sieht der Oberhausabgeordnete Tony Sewell in der wirtschaftlichen Perspektivenlosigkeit der weissen Unterschicht einen wichtigen Grund für die Krawalle, wie er gegenüber der BBC erklärte. Bei unterprivilegierten Jugendlichen im postindustriellen Nordengland falle rassistische Propaganda auf besonders fruchtbaren Boden, sagte der Londoner Pädagoge mit jamaicanischen Wurzeln.
Sewell verfasste 2021 im Auftrag der Regierung von Boris Johnson einen Bericht über Rassismus im Vereinigten Königreich, der in linken Kreisen auf Kritik stiess. Er argumentierte, dass für die Zukunftschancen von Jugendlichen nicht die ethnische Zugehörigkeit entscheidend sei, sondern die geografische Herkunft sowie die Klassenzugehörigkeit. Diese Aussage stützte sich auf Daten aus dem Bildungswesen: Demnach schneiden 14-jährige Knaben aus der weissen Unterschicht beim Abschluss der Sekundarstufe schlechter ab als ihre Altersgenossen mit indischen, bangalischen oder afrikanischen Wurzeln.
Vor fünf Jahren hatte Boris Johnson versprochen, nach dem Brexit das Wohlstandsgefälle zwischen dem armen Norden und dem wohlhabenden Süden zuzuschütten. Doch bis heute sind bloss 10 Prozent der in Aussicht gestellten Gelder in benachteiligte Regionen ausbezahlt worden. Ob Keir Starmer ein wirksameres Rezept zur Bekämpfung der regionalen und sozialen Ungleichheiten findet, ist zweifelhaft. Denn dem hochverschuldeten britischen Staat fehlt das Geld für substanzielle Investitionen.







