Die Demografie setzt die sozialen Sicherungssysteme in der Schweiz unter Druck. Laut einer Studie erben die jüngeren Generationen einen riesigen Schuldenberg, wenn nichts passiert.
Die Schweiz gilt als fiskalpolitische Musterschülerin. Schaut man auf die explizite Staatsverschuldung, so scheint dies durchaus angemessen. Diese lag im Jahr 2021 bei 27,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) – und damit steht das Land international gesehen sehr gut da.
Diese Zahlen zeigen aber nur die halbe Wahrheit. Berücksichtigt man die sogenannte implizite – quasi versteckte – Staatsverschuldung in Höhe von 345,9 Prozent des BIP, so kommt die Schweiz auf Gesamtschulden in Höhe von 373,3 Prozent. In dieser Berechnung sind die künftigen Kosten der sozialen Sicherungssysteme und Rentenansprüche von Bürgerinnen und Bürgern erfasst. Die Zahlen stammen aus einer Untersuchung der Grossbank UBS in Kooperation mit dem Forschungszentrum Generationenverträge der Universität Freiburg im Breisgau.
Schweizer Staatshaushalt «nicht nachhaltig»
«Im Laufe der Zeit werden implizite Schulden entweder zu expliziten Staatsschulden, oder sie müssen durch erhöhte Staatseinnahmen finanziert werden», sagte Veronica Weisser, Ökonomin und Vorsorgeexpertin der UBS, bei der Präsentation der Studie am Dienstag. Der Schweizer Staatshaushalt sei folglich nicht nachhaltig.
Als wichtigste Treiber der impliziten Staatsverschuldung gelten die AHV, die erste Säule des Schweizer Altersvorsorgesystems, sowie die Bereiche Gesundheit und Pflege.
AHV: Ältere Generation setzt sich bei Abstimmung durch
Laut der Studie besteht derzeit bei der AHV eine Finanzierungslücke in Höhe von 177 Prozent des BIP, oder umgerechnet rund 1315 Milliarden Franken. Das Volks-Ja bei der Abstimmung über die 13. AHV-Rente im März dieses Jahres hat dabei die Situation deutlich verschlechtert. Die 13. Rente sorgt ab 2026 für zusätzliche jährliche Ausgaben in Milliardenhöhe.
«Bei dieser Abstimmung hat sich die ältere Generation massiv auf Kosten der jüngeren Generationen durchgesetzt», sagte Bernd Raffelhüschen, Professor an der Universität Freiburg, bei der Präsentation. «Auch die direkte Demokratie kann Fehler machen.»
Auch ohne die Annahme der 13. AHV-Rente gäbe es allerdings eine erhebliche Finanzierungslücke bei der AHV, diese würde aber «nur» 102 Milliarden Franken betragen. Als wichtigster Treiber für die zukünftigen Ausgaben gilt die demografische Entwicklung.
Mehr Generationengerechtigkeit in der Altersvorsorge
Die Studienautoren fordern die Politik auf, in den kommenden Jahren den Fokus auf eine generationengerechte Finanzierung der ungedeckten Rentenversprechen zu legen. Dazu gehörten beispielsweise ein höheres Rentenalter, höhere Lohnbeiträge oder eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. «Es braucht mittlerweile mehrere Komponenten, die Lücke ist zu gross geworden», sagte Weisser.
Passiere nichts, werde die AHV für jüngere Generationen immer weniger attraktiv. Die Vorzüge des derzeitigen Systems sollten auch für kommende Generationen erhalten bleiben. Dies sieht auch Raffelhüschen so: «Wir müssen den Rücken unserer Kinder stärken, um die Akzeptanz der sozialen Sicherungssysteme zu steigern», sagte er.
Zur kurzfristigen Finanzierung der 13. AHV-Rente hatte der Bundesrat ursprünglich vorgeschlagen, die Lohnabgaben und die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Letztlich legte er dem Parlament eine Variante vor, bei der nur die Mehrwertsteuer erhöht werden soll. Die Vorschläge würden zwar die entstandenen Mehrausgaben mittelfristig decken, langfristig würde die AHV-Finanzierungslücke aber aufgrund der gesellschaftlichen Alterung dennoch weiter wachsen, teilte die UBS dazu mit.
Schwierige Finanzierung der 13. AHV-Rente
Eine noch stärkere Erhöhung von Beiträgen und Steuern würde zwar die Finanzierungslücke stärker schliessen. Beides könnte aber unerwünschte Nebenwirkungen haben. Eine höhere Mehrwertsteuer würde den Konsum schwächen und wirtschaftlich schwächere Gruppen stärker belasten, hiess es weiter. Höhere Lohnabgaben könnten das Entstehen neuer Stellen behindern.
Auch alleine mit moderat höherem Rentenalter dürfte sich die AHV-Finanzierungslücke nicht schliessen lassen. Nötig wäre laut UBS ein massiv höheres Eintrittsalter. Ein solches lasse sich politisch aber nicht umsetzen. Die Studienautoren empfehlen ein Rentenalter, das dynamisch an die steigende Lebenserwartung gekoppelt ist. Ob sich hierfür in absehbarer Zeit eine Mehrheit im Volk finden lässt, ist fraglich. Die Renteninitiative der Jungfreisinnigen, die einen solchen Vorschlag enthielt, wurde bei der Abstimmung im März dieses Jahres mit 74,7 Prozent der Stimmen wuchtig abgelehnt.
Ins Blickfeld der Ökonomen von UBS und Universität Freiburg sind auch die regelmässigen Rentenanpassungen bei der AHV geraten. Derzeit wird hier ein gesetzlicher Mischindex verwendet, der die Renten an die Lohn- und Preisentwicklung angleicht – normalerweise ist dies alle zwei Jahre der Fall. Der Mischindex errechnet sich dabei jeweils zur Hälfte aus dem Lohn- und dem Preisindex. Die Löhne seien seit der Einführung der Mischindexierung stärker gestiegen als die Preise, und dies dürfte auch in Zukunft so bleiben. Deshalb hätten die Rentner eine reale Rentenerhöhung erhalten. Ein Ausgleich für steigende Preise würde aus Sicht der Studienautoren reichen, um den Lebensstandard dieser Generationen zu erhalten.
Höhere Kosten bei Gesundheit und Pflege
Die demografische Entwicklung und die Pensionierung der Babyboomer führen unterdessen auch zu höheren Kosten in den Bereichen Gesundheit und Pflege. Laut der Studie dürften die Ausgaben für die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) stärker wachsen als die restlichen öffentlichen Ausgaben und das Wirtschaftswachstum. Die Finanzierungslücke bei der OKP, welche die Studie auf 148,2 Milliarden Franken im Jahr 2021 beziffert, könnte sich folglich massiv ausweiten.
Die Dämpfung der Gesundheitskosten bleibt also eine konstante Herausforderung. Das System sei zwar ausgezeichnet, wegen des medizinisch-technischen Fortschritts und der Alterung der Bevölkerung würden diese auch in Zukunft weiter steigen, heisst es in der Studie. Die Krankenkassenprämien müssten in politisch kaum umsetzbare Höhen steigen, um diesen Anstieg zu decken. Folglich brauche es auch hier strukturelle Anpassungen, sagte Weisser.