Ein Schiedsgericht soll künftig entscheiden, ob die Migration aus der EU die Schweiz in eine Notlage gebracht hat. Auf viel Verständnis wird das Land nicht zählen können.
Bei wohl keinem anderen Thema reden die EU-Kommission und die Schweiz so aneinander vorbei wie bei der angeblich hohen Zuwanderung aus dem Staatenbund. Daran hat sich auch nichts geändert, nachdem die Kommission und der Bundesrat vor zwei Wochen gewisse Eckpunkte einer neuen bilateralen Übereinkunft bekanntgegeben hatten.
Der grundsätzliche Widerspruch bei diesem Thema besteht weiter: Manche Schweizer wünschen, dass die Zuwanderung aus der EU markant sinkt. Doch die neue Übereinkunft wird dafür kein Rezept liefern.
Niedrige Sozialhilfequote
Künftig soll ein Schiedsgericht darüber entscheiden, ob die Schweiz Massnahmen gegen eine hohe Zuwanderung aus der EU ergreifen darf.
Viel Spielraum wird Bern dabei jedoch nicht haben. Der Bundesrat muss nämlich das Schiedsgericht davon überzeugen, dass die Schweiz in ernsthaften wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckt und diese auf die Zuwanderung aus der EU zurückzuführen sind. Nur in diesem Fall kann die Schweizer Regierung Schutzmassnahmen in Betracht ziehen.
Und was sind ernsthafte ökonomische Probleme überhaupt in einem Land, das aus der Sicht der meisten EU-Mitgliedsländer unermesslich reich ist? Der Bundesrat wird die Schwierigkeiten mit Kennzahlen messbar machen müssen, zum Beispiel anhand der Arbeitslosen- und der Sozialhilfequote.
Derzeit klagen viele Schweizer über Dichtestress, etwa weil es schwierig geworden ist, in einer Grossstadt eine Wohnung zu finden. Trotzdem hätte der Bundesrat momentan wohl keine Chance, das Schiedsgericht davon zu überzeugen, dass in der Schweiz eine wirtschaftliche Notlage herrscht. Zumal er auch beweisen müsste, dass diese eine Folge der Zuwanderung ist.
Zwar ist die Migration aus dem Staatenbund weiterhin hoch, die Arbeitslosen- und die Sozialhilfequote liegen aber auf einem niedrigen Niveau. So beträgt die Sozialhilfequote 2,8 Prozent, das ist der niedrigste Stand seit Jahren. Bei der Arbeitslosigkeit schneidet die Schweiz laut den Kriterien der EU zwar schlechter ab als etwa Polen oder Deutschland, doch immer noch besser als der Staatenbund im Durchschnitt.
«Die Probleme der Schweiz möchten wir haben»
Wer in Brüssel Kommissionsmitarbeiter, Journalistenkollegen oder Fachleute von Think-Tanks auf die Schweizer Zuwanderungsdiskussion anspricht, erntet bei diesem Thema eher freundliches Schulterklopfen statt Verständnis. Die Probleme der Schweiz möchte man haben, lautet eine viel gehörte Antwort darauf.
Die Perspektive dieser Europäer ist eine völlig andere als jene in der Schweiz. Während sich die Eidgenossenschaft die besten europäischen Arbeitskräfte dank den hohen Löhnen gleichsam aussuchen kann, macht man sich in anderen europäischen Ländern zunehmend Sorgen über den Mangel an Spezialisten: beispielsweise in den Niederlanden, die wie die Schweiz eine hochentwickelte Wirtschaft aufweisen.
Die Niederlande seien nicht mehr in jedem Fall attraktiv für ausländische Arbeitskräfte, sagte warnend beispielsweise Monique Kremer vom niederländischen Migrationsrat gegenüber der heimischen Zeitung NRC. Das Gremium berät die Regierung in Ausländerfragen.
In Spanien etwa wird laut Kremer davor gewarnt, in die Niederlande zu ziehen: Das Risiko sei gross, ausgebeutet zu werden, und die Wohnungssuche gestalte sich schwierig, heisse es im südeuropäischen Land.
Für die EU ist der Binnenmarkt eine Errungenschaft
Die EU-Kommission verteidigt die Personenfreizügigkeit ohnehin vehement. Für sie stellt der Binnenmarkt, also der unbeschränkte Personenverkehr neben dem freien Austausch von Kapital, Waren und Dienstleistungen, das Rückgrat der europäischen Wirtschaft dar. «Der Binnenmarkt ist eine der grössten Errungenschaften der EU», sagt Maros Sefcovic, der für die Schweiz zuständige EU-Kommissar.
Als der Binnenmarkt 1993 geschaffen wurde, befand sich die EU wie heute in einer Krise. Die Wirtschaft lief mässig. Im Staatenbund ging die Furcht um, von anderen Mächten ökonomisch und technologisch abgehängt zu werden.
Für die Kommission und die Mitgliedsländer war der Binnenmarkt daher ein Instrument, um der europäischen Wirtschaft wieder mehr Dynamik zu verleihen. Wenn die Länder die zwischen ihnen bestehenden Schranken niederrissen, entstehe ein grösserer Markt und das fördere die wirtschaftliche Effizienz sowie die Innovation, lautete die Hoffnung damals.
Die Erwartungen haben sich nur teilweise erfüllt. Trotz Schaffung des Binnenmarkts herrscht in der EU erneut die Sorge, dass man im Vergleich mit den USA und China gerade dramatisch an Wettbewerbsfähigkeit einbüsst.
Braucht die EU daher mehr Binnenmarkt, um das Malaise zu bekämpfen? In Brüssel herrscht diese Meinung vor, zumal es um die vier Freiheiten in der EU längst nicht so gut bestellt ist, wie die Kommission behauptet. Der Binnenmarkt ist lückenhaft, und die Länder behindern ihn, wenn sie zum Schluss kommen, die verschärfte Konkurrenz könnte ihren Interessen schaden.
So existiert der vielbeschworene Binnenmarkt bei den Dienstleistungen nur beschränkt. Deutsche Handwerker beklagen sich etwa, wie schwierig es sei, in einem Nachbarland einen Auftrag zu erledigen, beispielsweise in Österreich. Es gibt nicht nur viele nationale Vorschriften, sondern für Unternehmen auch keine Möglichkeit, sich rasch einen Überblick über die Regeln zu verschaffen. Das behindert den Wettbewerb über die Grenze.
Die Kommission riskiert ihre Glaubwürdigkeit
Verhältnismässig reibungslos läuft dagegen der freie Personenverkehr, und das dürfte einer der Gründe sein, warum die Kommission ihn so vehement verteidigt, auch gegenüber der Schweiz. Aus ihrer Sicht stellt er eine Pioniertat dar: Wo sonst auf der Welt können sich die Bürger schliesslich von so vielen Staaten frei von einem Land in ein anderes bewegen?
Diesen Erfolg soll niemand in Zweifel ziehen – auch die Schweiz möglichst nicht. Sefcovic hat die EU-Mitgliedsländer jedenfalls im Jahr 2024, als seine Unterhändler mit der Schweiz über den neuen Vertrag sprachen, auf die uneingeschränkte Personenfreizügigkeit mit der Schweiz eingeschworen. Und so haben Minister der Mitgliedsländer 2024 ebenfalls immer wieder betont, dass es für die Schweiz keine Ausnahmen bei der Personenfreizügigkeit geben könne. Die Kommission dürfte dem Land daher bei der Schutzklausel keine grossen Zugeständnisse machen, sonst verliert sie an Glaubwürdigkeit.