Die Verhandlungen der Schweiz mit der EU befinden sich laut Sefcovic auf der letzten Meile. Zwei besonders grosse Herausforderungen stehen noch an: die Frage, ob die Schweiz die Zuwanderung aus der EU begrenzen darf und wie viel Geld sie an die ärmeren EU-Mitglieder zahlen muss.
Aus der Sicht mancher Schweizer Politiker kommen zu viele EU-Bürger ins Land. Ihnen schwebt daher eine Art Schutzmechanismus vor, um die Einwanderung zu beschränken, falls sie weiterhin in einem hohen Ausmass stattfinden sollte.
Doch die Schweiz hat mit diesem Anliegen bei den EU-Mitgliedsländern und erst recht bei der Kommission einen schweren Stand. Das wurde am Dienstag in Luxemburg erneut offensichtlich, wo sich Minister und Staatssekretäre im Rahmen des EU-Rates für allgemeine Angelegenheiten trafen.
Die Sitzungen finden in der Regel monatlich statt; dieses Mal ging es auch um die laufenden Verhandlungen der Schweiz und der EU, die bis Ende Jahr zu einer neuen bilateralen Übereinkunft führen sollen.
Minister pochen auf die vier Freiheiten
Bereits am Morgen vor dem Treffen sagte die schwedische Europaministerin Jessica Rosencrantz, ihr Land stehe für die Einheit des EU-Binnenmarktes. Es könne für die Schweiz daher keine Ausnahmen von dessen vier Freiheiten geben. Zu diesen zählen neben dem unbeschränkten Personenverkehr der freie Austausch von Kapital, Waren und Dienstleistungen.
Auf eine ähnliche Weise äusserte sich Benjamin Haddad, Frankreichs Europaminister. Wer Partner des EU-Binnenmarkts sei, müsse auch dessen Regeln beachten, meinte er. Und zu diesen zählt er die vier Freiheiten.
Vertreter Ungarns – das Land hat gerade die Ratspräsidentschaft inne – hatten zuvor wiederholt betont, dass man sich bei den Gesprächen mit der Schweiz an das Common Understanding halten wolle. Dieses hatten Diplomaten beider Seiten vor zehn Monaten publiziert, es bildet seither die Basis für die Verhandlungen.
Im Dokument ist von einem Schutzmechanismus, wie er Schweizer Politikern und Wirtschaftsvertretern vorschwebt, keine Rede. Der für die Schweiz zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic hat sich daher stets auf den Standpunkt gestellt, dass er keinen Anlass sehe, mit der Schweiz über einen Schutzmechanismus zu verhandeln.
Gespräche dazu finden trotzdem statt, nur ist es sehr schwierig, bei diesem Thema einen Kompromiss zu finden. Einer Schutzklausel, welche die Schweiz einseitig ausrufen würde, hat Sefcovic am Dienstag aber eine Absage erteilt. Die Bürger der EU müssten gerecht behandelt werden, meinte er zu dieser Schweizer Idee. Die Mitgliedsländer und die Kommission seien sich darin einig.
Schweizer Diplomaten unter Druck
Die Schweizer Diplomaten sind derweil gleichsam dazu verdammt, beim Thema Zuwanderung in Brüssel etwas herauszuholen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schweizer Stimmbürger den Bilateralen III zustimmten, stiege dadurch.
In der Schweiz sind beim Thema Schutzmechanismus in den vergangenen Monaten allerdings immer höhere Erwartungen entstanden. Anfang Jahr hatte der Bundesrat eine Konsultation zum Common Understanding durchgeführt. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats bat den Bundesrat dabei, mit der EU über den Artikel 14.2 des Freizügigkeitsabkommens (FZA) zu sprechen. Dieser könnte einen gewissen Spielraum bieten, um die Zuwanderung zu beschränken.
Konkret besagt der Artikel, dass «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» in der Schweiz «Abhilfemassnahmen» möglich seien. Beschliessen muss sie aber der gemischte Ausschuss, und gelten dürfen sie nur vorübergehend.
Der Geist war damit aus der Flasche, die Diskussion über eine «Abhilfemassnahme» bei der Zuwanderung schaukelte sich hoch. Diese so zu gestalten, dass sie sich einerseits mit der Personenfreizügigkeit vereinbaren lässt und anderseits eine Wirkung entfaltet, ist jedoch schwierig. Die Verhandlungen darüber werden in den kommenden Wochen laut Sefcovic den grössten Brocken darstellen.
Personenfreizügigkeit für Studenten
Es scheint, als dränge die Kommission auf einen Ausgleich im Bereich der Personenfreizügigkeit, wenn sie der Schweiz hier ein paar Schrittchen entgegenkäme. Laut Sefcovic haben gewisse Minister am Dienstag ebenfalls die Frage aufgeworfen, wie es mit der Personenfreizügigkeit für Studenten aus der EU stehe.
Diese gibt es nicht, und sie wäre für Schweizer Universitäten schwierig zu akzeptieren. Sie müssten einen Zulauf von Studenten aus Ländern befürchten, in denen die Hürden für die Maturität niedriger sind als in der Schweiz – und das ist fast überall in Europa der Fall.
Für die Kommission geht es mit diesem Vorschlag aber auch darum, Verhandlungsmasse in die Gespräche zu bringen. Offenbar will sie der Schweiz vor Augen führen, welch grosses Opfer eine Schutzklausel von der Schweiz erforderte.
Kommissionsvertreter sprechen immer wieder davon, dass im Common Understanding eine Balance erreicht worden sei. Diese muss aus ihrer Sicht gewahrt bleiben. Und Sefcovic meinte, dass er von den Mitgliedsländern ein Mandat habe, an das er sich halten müsse.
Das zweite Dossier, bei dem noch sehr viel Bedarf für Klärung besteht, sind die Kohäsionsgelder. Dabei handelt es sich um Zahlungen, welche die Schweiz an ärmere EU-Länder leistet, um dort zu einer wirtschaftlichen Entwicklung beizutragen. Entstehen soll ein Mechanismus, wie die Überweisungen erfolgen sollen.
Die Gespräche dazu sind laut Sefcovic eine ebenso grosse Herausforderung wie die Verhandlungen über die Personenfreizügigkeit. Bisher hat die Schweiz in zwei Tranchen die Summe von 2,6 Milliarden Franken gesprochen. «Wir legen den Fokus nun auf die letzte Meile», meinte der Kommissar zu den Gesprächen in den kommenden zwei Monaten.
Noch länger verhandeln möchte Sefcovic mit der Schweiz nicht. Schliesslich führe man seit 2014 Gespräche, sagte er . Diese zählten zu intensivsten, die er in seiner Karriere abgehalten habe.
Es gibt auch Fortschritte
In anderen Fragen haben sich die Parteien dagegen angenähert. Fortschritte hat man besonders bei institutionellen Fragen erzielt. Das hat Sefcovic bereits im Sommer betont.
Dabei geht es darum, wie die Schweiz neues EU-Binnenmarktrecht übernehmen muss und was passiert, wenn sich die Partner in dieser Frage nicht einig sind. Um Konflikte zu klären, ist neu ein paritätisch besetztes Schiedsgericht vorgesehen. Es hätte das letzte Wort bei politisch nicht bereinigten Differenzen und muss bei Fragen rund um das EU-Recht den Europäischen Gerichtshof (EuGH) für eine verbindliche Auslegung beiziehen.