Die 38-jährige Lily Gladstone ist ein Ausnahmetalent, neben dem Hollywood-Grössen wie Robert De Niro und Leonardo DiCaprio wie Komparsen wirken. Aber den Oscar will sie nicht für sich allein.
Irgendwann will man nur noch Mollie anschauen. Man will wissen, wie die quälend langsam erzählte Geschichte weitergeht, aber man will sie nur noch in ihrem Gesicht gespiegelt sehen. Zum Beispiel, während die trübe Tasse Ernest, gespielt von Leonardo DiCaprio, ihren Stumpfsinn von sich gibt. Dann verschieben sich Mollies Gesichtszüge fast unmerklich, wie wenn sich Abendrot im schwindenden Licht ändert. Sie weiss, dass sie diesem Weissen nicht trauen darf, aber sie wird sich trotzdem in ihn verlieben. «Du bist der Kojote», sagt sie zu ihm. DiCaprios alterndes Jungengesicht strahlt sie an. Er hat keine Ahnung, was das heisst.
Lily Gladstone spielt Mollie Burkhart in Martin Scorseses «Killers of the Flower Moon», der die Geschichte einer ganzen Reihe von Morden an amerikanischen Ureinwohnern des Osage-Stamms zwischen 1910 und 1930 erzählt. Gladstone könnte die erste Native American in der Geschichte Hollywoods sein, die einen Oscar für die beste Hauptrolle bekommt.
Dass sie dafür nominiert wurde und nicht ihr Filmpartner Leonardo DiCaprio, überrascht nur jene, die den Film nicht gesehen haben. Denn Gladstone trägt den dreieinhalbstündigen Film eigenhändig. Sie hat sich nicht nur die Geschichte der jungen Mollie angeeignet, mit ihrem körperlichen Schauspiel hat sie die Figur zum Gravitationszentrum der Handlung gemacht. Nicht einmal der Regisseur Martin Scorsese hat das so vorausgesehen. Das Resultat ist Lily Gladstones Triumph – aber nicht nur als Schauspielerin, sondern vor allem als Aktivistin.
Native Americans waren in Hollywood unsichtbar
Als Scorsese bei Lily Gladstone anrief, studierte sie gerade Killerbienen. Es war Lockdown in Seattle, und sie hatte sich entschieden, für ein Forschungsprojekt zu arbeiten. Sie wollte eine Pause von ihrer aufreibenden Schauspielerexistenz. Sie drehte zahlreiche kleinere Projekte pro Jahr, spielte zeitlich überlappende Nebenrollen in Indie-Filmen und Serien – und schaffte es gerade knapp, davon zu leben.
Doch was der Regisseur ihr vorschlug, konnte Gladstone nicht ausschlagen. Und zwar nicht, weil Scorsese, wie ganz Amerika sagt, der grösste Filmemacher aller Zeiten ist. Auch nicht deswegen, weil sie so gerne eine berühmte Hollywood-Schauspielerin geworden wäre. Nein, Gladstone begriff Scorseses Angebot als Chance, endlich ein Ärgernis anzugehen, an dem sie sich seit Beginn ihrer Karriere abarbeitete: den Fakt, dass Native Americans in Hollywood unsichtbar waren. «Ich wollte die Tür eintreten und für die aufhalten, die nach mir kommen», sagte sie in einem Interview.
Lily Gladstones Mutter ist eine Weisse mit britischen Wurzeln, ihr Vater ist Blackfoot- und Nez-Percé-Indianer. Als Ur-Ur-Enkelin von Stammesführer Red Crow zählt die 38-Jährige quasi zum alten Adel der First Nation.
Ihre frühe Kindheit verbrachte Gladstone im Blackfeet-Reservat in Montana: flaches Land, umgeben von Hügeln, die sich Richtung Kanada zu den schneebedeckten Rocky Mountains wölben. Am Horizont ragt der klobige Fels Chief Mountain wie ein Backenzahn aus der Prärie. In dieser spärlich besiedelten Landschaft hat Gladstone den Geist indigener Ahnen und Traditionen aufgesogen. Gladstone und ihre ältere Schwester wurden an einer winzigen Primarschule in Browning, im Hauptort des Reservats, unterrichtet. Das einstöckige Gebäude beherbergte knapp zwei Dutzend Kinder. Die Betreuung durch indigenes Lehrpersonal war eng und familiär. Die meisten Familien lebten in bescheidenen Verhältnissen, ihr Alltag schlicht und naturverbunden.
Im Alter von fünf Jahren entdeckte Gladstone die teddybärartigen Freiheitskämpfer namens Ewok aus dem Star-Wars-Universum und beschloss, Schauspielerin zu werden. Ihre Eltern unterstützten diesen Wunsch. Die Gladstones gaben ihren Kindern viel Raum für autonome Entwicklung. Einmal, erzählt Lily Gladstone, habe sie ihre Eltern ganz direkt gefragt, ob Gott real sei. Die reagierten mit einer Gegenfrage: «Was denkst du?» Das sei typisch gewesen für den Erziehungsstil.
«Ich hatte einen Kulturschock, als wir aus Browning wegzogen», erzählt sie über den Zeitpunkt, als die Familie beschloss, im Norden der Stadt Seattle zu leben. Materieller Reichtum hatte für Gladstone bisher keinen Stellenwert gehabt. Jetzt wurde ihre Familie nach den Massstäben einer auf Konsum fixierten Gesellschaft eingeteilt: Wie viel das Auto kostete, wie gross der Fernseher war – es waren vor allem Dinge, bemerkte die junge Gladstone, die in diesem Umfeld einen Wert hatten. Doch noch etwas anderes fühlte sich neu an: der Blick der Weissen.
Es war das Jahr 1995, und Disney hatte gerade seinen ersten «Pocahontas»-Film herausgebracht – die Trickverfilmung eines stereotypen Mythos über eine real existierende Indianerfrau. «Kannst du mit den Farben des Windes malen?», haben die neuen Mitschüler sie in Anspielung auf die Hauptfigur gefragt. Und das, bemerkte Gladstone, sei nicht freundlich gemeint gewesen.
Gladstone ist eine schauspielende Aktivistin
Als sie Anfang der nuller Jahre ihr Schauspielstudium aufnahm, war Gladstone nicht nur dem Ewok-Kostüm entwachsen, sondern auch den romantischen Vorstellungen einer Schauspielkarriere. «Meine Angst war, dass mir der Überlebenskampf in Hollywood oder New York die Leidenschaft für die Schauspielerei rauben würde», erinnert sie sich. Sie zog nicht, wie die meisten Anwärterinnen, zum Studium nach New York oder Los Angeles, sondern zurück nach Montana. Dort hatte sie ein kleines Netzwerk in der lokalen Filmszene, an das sie anknüpfen konnte.
Doch auch hier musste sie sich irgendwie über Wasser halten, zwischen kleineren Rollen und Nebenjobs arbeitete sie sieben Jahre lang für ein Bildungsprojekt. «Ich tourte als Ein-Frau-Show durch die Staaten, um an Schulen die Geschichte der indigenen Bevölkerung Amerikas zu vermitteln», erzählt Gladstone. Sie stand vor den Klassen und spielte Monologe von Zeitzeugen nach – überlebenden Indigenen, die von den weissen Behörden in sogenannte Boarding-Schools gesteckt wurden mit dem Ziel, ihren «indianischen Charakter» abzulegen.
Die Zeitzeugenberichte von psychischen und körperlichen Misshandlungen, die Kinder und Jugendliche in diesen Umerziehungslagern erlitten, lernte Gladstone auswendig, um sie über die Jahre Hunderte Male vor Publikum nachzuspielen. Gladstone erfuhr aus eigener Anschauung, dass die Geschichte der Urbevölkerung an keiner der Schulen, die sie besuchte, unterrichtet wurde. Als sie kürzlich jemand nach den Auswirkungen dieser Jahre auf ihre Psyche fragte, erwiderte sie: «Teenager sind ein schwieriges Publikum.» Es ist eine typische Gladstone-Antwort. Es soll nicht um sie gehen.
Für die Schauspielerin dürften die Jahre als Ein-Frau-Show an amerikanischen Schulen prägend gewesen sein. Lily Gladstone ist keine aktivistische Schauspielerin, sie ist eine schauspielernde Aktivistin.
2012 debütierte Gladstone in einer Nebenrolle im Film «Jimmy P. – Psychotherapie eines Indianers». Darin spielt Benicio del Toro, im echten Leben ein Puerto Ricaner, einen Blackfoot-Indianer. Gladstone hätte diese Wahl öffentlich kritisieren können, aber sie tat es nicht. Auch heute, da ihr scheinbar die ganze Welt zuhört, bleibt sie in Interviews höflich und überlegt. Gladstone spielt nie auf den Mann, sie kritisiert stets Strukturen, nicht die Menschen. Auf die Frage, ob sie sich noch an die Namen der Casting-Direktoren erinnere, die sie in Hollywood abgelehnt hätten, sagte sie: «Ich erinnere mich ehrlich gesagt nicht einmal, wer die Leute waren.»
«Nicht indianisch genug» für Hollywood
Erst als sie 2016 in Kelly Reichardts «Certain Women» eine Hilfsarbeiterin auf einer entlegenen Ranch spielte, die sich in die junge Anwältin Beth (Kristen Stewart) verliebt, wurde Hollywood auf Gladstone aufmerksam. Nur wenig später trat Martin Scorsese mit der ersten Fassung des Drehbuchs über die Osage-Morde an sie heran.
Gladstone zögerte, bevor sie zusagte. In den Jahren zuvor hatte sie den Entschluss gefasst, nur noch in der Rolle der Native aufzutreten, wenn die indigene Gemeinde insgesamt davon profitieren konnte. Als zu stereotyp empfand sie die meisten Rollen, die ihr als Indigene angeboten wurden, als zu holzschnittartig die Figuren, die sich ins Narrativ der weissen Siedlernation einzufügen hatten. Ihre Erfahrungen mit Hollywood waren belastet. Beim Vorsprechen gab man Gladstone zu verstehen, dass ihr Aussehen nicht «indianisch genug» sei. «Gemeint war, dass ich ihrem stereotypen Bild einer Native American nicht entsprach», erklärt Gladstone in einem Interview mit dem Podcaster Sam Fragoso.
Sie sei unter anderem aufgefordert worden, gebrochen Englisch oder mit einem «Reservat-Akzent» zu sprechen. Immer sei vorausgesetzt worden, dass sie eine indianische Sprache beherrsche, obwohl das für Native Americans, die in einer englischsprachigen Mehrheitsgesellschaft aufwachsen, keine Selbstverständlichkeit ist. Ihre Muttersprache Blackfoot lernte Gladstone wie andere Natives nicht in der Schule, sondern von älteren Familienmitgliedern.
«Ich bin wir», sagte Gladstone. Diese Einstellung sei das Resultat ihrer Kindheit in einer indigenen Gemeinschaft. Sie habe sich zwar immer als Individuum mit eigenen Interessen und Leidenschaften begriffen, aber: «Ich bin nicht in einem Vakuum entstanden. Ich bin Teil einer Gemeinschaft und damit Teil einer grösseren Geschichte.»
Seit dem Erscheinen von «Killers of the Flower Moon» vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo ein bis zwei Interviews mit Gladstone erscheinen. Australische Regionalzeitungen, kanadische Privatsender, Podcast-Hosts aus dem Mittleren Westen: Gladstone ist es egal, in welches Mikrofon sie ihre Botschaft spricht. Sie lebt aus dem Koffer, übernachtet bei Freunden, nimmt ihren Hund mit auf diese Reisen. In Interviews lenkt sie das Gespräch konsequent von sich weg auf die 574 Stämme der First Nations. «Ich habe seit 2015 keinen Mietvertrag mehr unterzeichnet» – mehr über ihr Privatleben gibt sie nicht preis.
Kürzlich hat sie erklärt, was es mit dem «Kojoten» auf sich hat, als den sie ihren Ehemann Ernest im Film bezeichnet: Der Kojote ist in der indianischen Mythologie eine Figur, die stets etwas ausheckt, er gibt sich charmant und lustig, aber eigentlich wissen alle, dass er ein Schwindler ist – einfach kein besonders geschickter. In den meisten Erzählungen der First Nations ist er ein Weisser. Und immer verliert der Kojote am Ende der Geschichte.