Jason Alden / Bloomberg
Das Quartier Spitalfields im Londoner East End war stets ein Anziehungspunkt für neue Migrantengruppen. Heute bilden die Geschichten von Hugenotten, osteuropäischen Juden und südasiatischen Muslimen einen einzigartigen Mix.
Die Zeiten, als Spitalfields noch als Geheimtipp galt, sind vorbei. Die Gegend liegt östlich der Wolkenkratzer des Finanzdistrikts in der City of London und südlich des Kreativ- und Trendquartiers Shoreditch – eine Lage, die Spitalfields zu einem der teuersten Viertel im Osten Londons gemacht hat. Die Brick Lane mit ihren Graffiti, Kunstmärkten, Cafés, Secondhandläden und Modeboutiquen ist das Herz von Spitalfields. Als Mekka der Alternativkultur steht die Strasse inzwischen in jedem Touristenführer.
Auf den Spuren der Hugenotten
Wer etwas genauer hinschaut, entdeckt in Spitalfields die Spuren unterschiedlicher Einwanderungswellen, die Londons Entwicklung und Gesicht geprägt haben. Daniel Defoe, 1660 geboren und Autor des Erfolgsromans «Robinson Crusoe», beschrieb zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Urbanisierung der Gegend. Spitalfields, das während seiner Kindheit noch von Feldern und grasenden Kühen geprägt war, verwandelte sich bis 1720 in ein Industrieviertel mit über 200 000 Einwohnern.
Diese Transformation befördert hatten Tausende von Hugenotten, die in Frankreich nach der Widerrufung des Edikts von Nantes verfolgt wurden. Die protestantischen Handwerker und Kaufleute waren eine treibende Kraft hinter der aufblühenden Textilindustrie in London, eröffneten Webereien und Spinnereien und begründeten Seidenmanufakturen.
Der industrielle Charakter des East End zeigt sich bis heute an den alten Fabriken und Lagerhallen, die in trendige Lofts umgebaut worden sind. Auch Spuren der Hugenotten finden sich noch. Das in ein Museum umfunktionierte Dennis Severs’ House zum Beispiel gibt einen Einblick in den Haushalt einer wohlhabenden Familie von Seidenwebern im 18. Jahrhundert.
Hinweise auf die Hugenotten finden sich auch in Strassennamen – von der Fournier Street über die Nantes Passage bis zur Fleur de Lis Street. Selbst die 1729 im bombastischen Barockstil erbaute Christ Church Spitalfields ist eine Folge ihrer Migration. Angesichts der Zuwanderung der französischen Hugenotten beschloss das Parlament in Westminster, mit dem Bau imposanter Gotteshäuser die anhaltende Dominanz der anglikanischen Church of England zu untermauern.
Jüdische Bagel-Bäckereien
Zwischen 1870 und 1914 zogen viele osteuropäische und russische Juden nach Spitalfields. Sie flohen vor Armut und Verfolgung in ihrer Heimat. Spitalfields entwickelte sich in dieser Zeit zu einem überfüllten Armen- und Rotlichtviertel – und wurde 1880 zum Schauplatz der Morde von Jack the Ripper. Auf geführten Spaziergängen spüren jeden Tag Touristengruppen dem mysteriösen Frauenmörder nach. Das Pub «The Ten Bells», wo eines seiner Opfer zuletzt gesehen worden war, steht unter Denkmalschutz und versetzt die Besucher bei einem Pint in viktorianische Zeiten.
Die jüdischen Anwohner kamen rasch zu Wohlstand, worauf sie in wohlhabendere Quartiere weiterzogen. Dennoch findet man im Viertel bis heute Spuren der Zuwanderung der osteuropäischen Juden. Am nördlichen Ende der Brick Lane steht die Imbissbude «Beigel Shop», die im Jahr 1855 eröffnet wurde und als älteste Bagel-Bude der Stadt gilt. Gleich nebenan steht das Konkurrenzgeschäft «Beigel Bake».
Gemeinsam gelten die beiden jüdischen Bäckereien als Londoner Institution, zumal sie rund um die Uhr geöffnet sind. In den frühen Morgenstunden bilden sich auf der Strasse lange Warteschlangen von Nachtschwärmern. Belegt werden die Brötchen etwa mit gesalzenem Rindfleisch oder mit Lachs und Frischkäse. Die ringförmigen Backwaren sind hier etwas kleiner als die in den USA üblichen und gleichen damit laut Experten stärker den ursprünglichen Bagels aus Osteuropa.
Grasende Ziegen und Ponys
Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen viele muslimische Zuwanderer aus Indien, Pakistan und vor allem Bangladesh in die Gegend – was das Quartier bis heute prägt. In den zahlreichen Sozialsiedlungen östlich der Brick Lane leben Anwohner mit südasiatischen Wurzeln. Die Umgebung der East London Mosque im nahen Whitechapel ist fest in muslimischer Hand.
Wer durch die Brick Lane spaziert, wird von Mitarbeitern von Restaurants angelockt, die «the best Indian food in London» versprechen. Nicht immer hält die Realität das Versprechen ein. In den meisten Gaststätten sind Köche mit Wurzeln aus Bangladesh am Werk. Ein bangalischer Bekannter führt ins simple Restaurant «Graam Bangla» und betont, dass hier das authentischste Essen serviert werde.
Köstlich sind die Bhortas genannten Häppchen aus Gemüse, Fisch oder Fleisch. Fotografien an der Wand erinnern an einen Besuch von König Charles III. und Königin Camilla, die vor Charles’ Aufstieg auf den Thron auf der Suche nach der besten bangalischen Küche im Königreich ebenfalls im «Graam Bangla» abstiegen.
Wer von der Brick Lane nach Osten schlendert, stösst zwischen Sozialsiedlungen und neben einer Zuglinie unvermittelt auf einen Bauernhof. Die Spitalfields City Farm wurde vor rund vierzig Jahren auf einer Industriebrache errichtet. Heute beherbergt der Hof auch einen Bioladen und ein einfaches Restaurant. Die City Farm wirkt wie eine Oase in der Grossstadt und widerspiegelt die urbane Alternativkultur und die Gentrifizierung, die den Osten Londons heute prägen. Gleichzeitig erinnern die Hühner und die grasenden Ziegen und Ponys an das ländliche Spitalfields, das Daniel Defoe vor dreihundert Jahren beschrieb.
Insider-Tipps
Essen
In Spitalfields hat man die Qual der Wahl. Es gibt kaum ein Gericht oder eine Küche, die man in der Gegend nicht findet.
Graam Bangla: 68 Brick Ln, London E1 6RL. Einfache, günstige und authentische Gerichte aus Bangladesh.
Jüdische Bäckereien: Beigel Shop, 155 Brick Ln, London E1 6SB. Gleich nebenan: Beigel Bake.
Som Saa: 43A Commercial St, London E1 6BD. Thai-Küche, Reservation erforderlich.
St John Bread and Wine: Moderne europäische und britische Küche, 94–96 Commercial St, London E1 6LZ. Fleisch.
Trinken
Culpeper: 40 Commercial St, London E1 6LP. Gastropub mit bepflanzter Dachterrasse mit Blick auf die Londoner City für Apéro.
The Ten Bells: 84 Commercial St, London E1 6LY. Traditionelles Pub mit viktorianischem Dekor und Verbindung zu den Morden von Jack the Ripper.
Schlafen
Boundary Hotel Shoreditch, 2–4 Boundary St, London E2 7DD. In unmittelbarer Nähe der Brick Lane gelegen, mit Dachterrasse.
Nobu Hotel London Shoreditch, 10–50 Willow St, London EC2A 4B, zentral gelegen, elegantes Flair und doch gemütlich.
Ibis London City Hotel, 5 Commercial St, London E1 6BF. Budget-Option an zentraler Lage.
Hingehen
Old Spitalfields Market: 16 Horner Square, London E1 6EW. Viktorianischer Markt für Schmuck, Kleider und Essen. Diente bis 1991 als Grosshandelsmarkt für Gemüse und Früchte.
The Truman Brewery: 91 Brick Ln, London E1 6QR. Alte Brauerei mit Secondhandläden, manchmal Sonderverkauf von Mode-Labels, Musik, am Samstag und Sonntag Essensstände aus aller Welt im Upmarket.
Dennis Severs’ House: 18 Folgate Street, London E1 6BX. Nachgebildeter Einblick in den Haushalt eines hugenottischen Webers im 18. Jahrhundert. Buchung notwendig.