In seiner programmatischen Kampfschrift hat der Diktator seinen Rassenwahn und den Terror unverblümt dargestellt. Wer wollte, konnte wissen, was geschehen würde. Gelernt hätten wir daraus wenig, sagt der Schriftsteller Arnon Grünberg und empfiehlt, Hitlers Buch zu lesen.
Als im Juli 1925 der erste Band von Adolf Hitlers «Mein Kampf» erschien, befand sich der deutsche Buchmarkt bereits seit einigen Jahren in einer «schweren Krise», wie der österreichische Historiker Othmar Plöckinger in seiner Studie «Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers ‹Mein Kampf› (1922–1945)» schreibt. Darum hatte Hitlers Verleger keine grossen Erwartungen. Dennoch wurden allein in Deutschland über zehn Millionen Exemplare verkauft. Auch in anderen Ländern, so beispielsweise in den Vereinigten Staaten, wurde das Buch zu einem kommerziellen Erfolg. Im Jahr 1947 berichtete sein Verleger, dass Hitler mit dem Buch rund 15 Millionen Reichsmark (etwa 67 Millionen Euro) verdient habe, von denen 7 Millionen nicht ausbezahlt worden seien.
Zu den Mythen um das Buch gehört die Behauptung, es habe sich zwar gut verkauft, sei aber kaum gelesen worden. Plöckinger belegt mit Daten aus Bibliotheken in Deutschland, dass «Mein Kampf» gelesen, in der Presse besprochen und an einigen Orten sogar gefeiert worden ist.
Das Buch war im Franz-Eher-Verlag erschienen, der von Max Amann, Hitlers ehemaligem Vorgesetzten aus dem Ersten Weltkrieg, geleitet wurde. Es wurde ursprünglich unter dem Titel «Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit. Eine Abrechnung» angekündigt. Die viereinhalb Jahre beziehen sich auf den Ersten Weltkrieg, in dem Hitler als Unteroffizier gedient hatte. Wie mutig er tatsächlich gegen Feigheit gekämpft hatte, war damals Gegenstand vieler Debatten. Der Arbeitstitel wurde aufgegeben, was blieb, war der «Kampf». Ein einziges Wort fasste alles zusammen.
Erinnerungskultur reicht nicht
Lange glaubte ich, «Mein Kampf» könne uns helfen, moderne Irrtümer und wahnhafte Verschwörungstheorien leichter zu erkennen. Heute weiss ich, dass es einen wirksamen Impfstoff gegen zweifelhafte Retter nicht gibt. Zwar hat sich die Kultur des Erinnerns als nicht ganz wirkungslos erwiesen, aber wir haben noch lange keinen Grund, Halleluja zu singen. Der Kampf gegen Lügen, Feigheit und Dummheit wird nach wie vor von allen Seiten tatkräftig geführt. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies in vielen Fällen vor allem dazu dient, sich selbst weniger dumm, feige und verlogen erscheinen zu lassen.
Die Vergangenheit schafft die Gegenwart, aber die Gegenwart schafft auch ihre Vergangenheit, schon allein deshalb, weil unser Verständnis der Vergangenheit einem ständigen Wandel unterliegt. Wenn die israelische Regierung den derzeitigen Kurs mit ihrem politisch-religiösen Messianismus fortsetzt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis Hitlers Massenmord an den europäischen Juden zu einem Präventivkrieg umgedeutet wird.
Hitlers politisches Leben begann in München, wo er sein rhetorisches Talent entdeckte und wo nach dem blutigen Ende der Bayerischen Räterepublik 1919 der Hunger nach Erlösung und Erlösern vielleicht noch stärker war als anderswo in Deutschland. Der Antisemitismus stiess dort auf mehr Unterstützung als in anderen Teilen des Landes.
Bereits in den 1920er Jahren verglich sich Hitler in seinen Reden mit Jesus: «Wir mögen klein sein, aber einst gab es einen Mann in Galiläa, und heute beherrschen seine Lehren die Welt», sagte er. Gemäss seinem Biografen Volker Ullrich war seine Bariton-Stimme seine stärkste Waffe. Einige Zuhörer berichteten von Gefühlen einer «religiösen Bekehrung», wenn sie Hitler zuhörten. Er galt als Luther seiner Zeit, obwohl der Historiker Ullrich anmerkt, dass die «reichlichen Mengen an Bier» das Publikum wahrscheinlich empfänglicher für solche Empfindungen machten.
Aus dem Buch «Das Dritte Reich des Traums», in dem die Journalistin Charlotte Beradt die Träume gewöhnlicher Deutscher sammelte, wissen wir, dass Hitlers Vorstellungen von Diktatur und Terror bereits 1933, nur ein Jahrzehnt später, tief in die Träume des deutschen Volkes eingedrungen waren. Das «Dritte Reich» hatte das Unbewusste durchdrungen.
Die Versuchung war zur Angst und die Erlösung zu purem Terror geworden. Hitlers Kampf gegen Feigheit, Lügen und Dummheit sollte nach der Machtergreifung noch zwölf Jahre dauern. Am Ende waren zwischen 70 und 85 Millionen Menschen tot, unter ihnen 6 Millionen Juden. Mit diesem Erbe müssen wir uns bis heute auseinandersetzen.
Grass hatte wenig gelernt
Im Frühjahr 1945, als deutsche Städte bombardiert wurden, die Artillerie der Roten Armee in Berlin zu hören war und der Naziterror unter der Devise «Erst Terror, dann Untergang» weiterging, glaubten viele Deutsche weiterhin unerschütterlich an ihren Führer, selbst manche Kriegsgefangenen.
Albert Camus schreibt in «Der Mensch in der Revolte», dass die Menschen nur einen Weg hätten, Prinzipien zu retten, die versagten, und ihren Glauben zu bewahren, nämlich, dafür zu sterben. Viele ziehen es vor, einen geliebten Menschen zu verlieren, als ihre Prinzipien aufzugeben. Moral ist dann in einem Mass dehnbar, dass der Kampf gegen Feigheit, Lügen und Dummheit sogar die Form von Terror annehmen kann.
Zuzugeben, dass man sich geirrt hat, ist so schmerzhaft, dass die meisten es lieber nicht tun. Der junge Günter Grass diente am Ende des Krieges in der 10. SS-Panzerdivision «Frundsberg». Als ich ihn zwei Jahre vor seinem Tod interviewte, sagte er, er habe damals geglaubt, «für eine gerechte Sache» zu kämpfen. Selbst nach der Kapitulation Deutschlands tat er die Wahrheit als Propaganda ab. Erst als der ehemalige Reichsjugendführer Baldur von Schirach während der Nürnberger Prozesse zugab, dass er von der Massenvernichtung gewusst habe, konnte sich Grass endlich eingestehen, dass er sich geirrt hatte.
In unserem Gespräch bezeichnete er von Schirach als «meinen Reichsjugendführer», als hätte ein Teil von ihm die Hitlerjugend nie wirklich verlassen. Wenn man nicht für Prinzipien stirbt, die sich als Lügen entpuppen, verwandeln sich diese Prinzipien – die man nicht mehr zu Recht als Prinzipien bezeichnen kann – in eine Wunde, die selten wirklich heilt. Sie werden zu einer gesellschaftlichen Wunde.
Wer heute die neue kommentierte Ausgabe von «Mein Kampf» liest, wird dies mit gemischten Gefühlen tun. Die auffälligsten Passagen betreffen die Juden und die Propaganda. Vieles von dem, was Hitler über Propaganda sagt, sollte auch uns zu denken geben. Er schreibt, dass die NSDAP nicht «Dienerin der politischen Interessen einzelner Bundesstaaten, sondern [. . .] Herrin der deutschen Nation» werden solle.
Sein Angriff auf die Juden folgte einem klaren Kalkül. Hitler spürte sehr genau, dass sich die Einsamen, Verbitterten und Enttäuschten in Deutschland nach Gemeinschaft sehnten. Nichts schafft eine so starke Gemeinschaft wie ein gemeinsamer Feind, ein Sündenbock.
In Frankreich war der Antisemitismus vor dem Krieg genauso virulent wie in Deutschland, aber Hitler schuf eine Glaubensgemeinschaft, in der Juden, sowohl Bolschewiken als auch Kapitalisten, Parasiten und Herren, sichtbar und unsichtbar waren, sie waren überall und nirgendwo, aber vor allem: allmächtig. Da nach Hitlers Ansicht das «Weltjudentum» eine Weltmacht war, musste auch der Antisemitismus zu einer Weltmacht werden. So fasste der 1927 in die USA emigrierte Wiener Rabbiner und Historiker Salo Baron noch während des Krieges Hitlers Ideologie zusammen. Auch mit diesem Erbe haben wir weiterhin zu kämpfen.
Warum wir «Mein Kampf» lesen sollten
Mythen halten sich hartnäckig, besonders wenn wir glauben, sie überwunden zu haben. Die Resonanz auf «Mein Kampf» war nicht besonders enthusiastisch. Der Hitler-freundliche Schriftsteller Rudolf Binding schrieb in der «Frankfurter Zeitung», dass Hitler niemanden liebe und nur einen Instinkt habe: «die Unterwerfung des Volkes».
Hitlers Antisemitismus wurde weitgehend ignoriert oder als nebensächlich abgetan, ausser in der christlichen und der jüdischen Presse. Hans von Lüpke schrieb in «Kirche und Nationalsozialismus», dass der zerstörerische Einfluss des Judentums nicht durch die «Verherrlichung der eigenen Rasse» bekämpft werden könne.
Volker Ullrich beendet sein Biografie mit der Feststellung, dass wir in gewisser Weise «für immer» an Hitler gebunden seien und dass sein Leben eine Warnung dafür bleibe, wie leicht «Rechtsstaatlichkeit und moralische Standards beiseitegeschoben werden können». Umso mehr hat die Nachwelt Grund, seine Bibel zu lesen.
Moral ist elastisch. Man könnte sagen, sie sei wie ein Trampolin: Je stärker man draufspringt, desto höher springt man hinauf. Wer an Prinzipien eisern festhält, kann ein Held werden oder ein Fanatiker. Hätten Warnungen geholfen – und davon gab es viele –, hätte Hitler vielleicht vermieden werden können.
Wer heute behauptet, gegen Lügen, Dummheit und Feigheit zu kämpfen, sollte sich daran erinnern: Das tat auch Hitler. Das tat auch Günter Grass. Für uns, die wir uns in der Vorstellung gefallen, höchstens in geringem Mass gefügige Mitläufer zu sein, bleibt nur eine Gewissheit: Der nächste Retter wird kommen, und er wird erneut die Elastizität unserer Moral auf die Probe stellen.
Arnon Grünberg ist ein niederländischer Schriftsteller und Journalist. Er lebt und arbeitet in New York. – Aus dem Englischen von rbl.








