Nach dem Untergang der «Adriana» ist die Rolle der griechischen Küstenwache weiter ungeklärt. Überlebende verlangen Antworten – und die Bergung des Wracks.
«Wir stehen heute als Vertreter der Überlebenden und der Toten hier, um Gerechtigkeit zu fordern. Wir fordern das Bergen des Wracks und die Übergabe der Leichen an die Angehörigen ohne bürokratische Hindernisse.» Naeef al-Saiasna und Hasan al-Jalam sind Überlebende des Schiffsunglücks von Pylos, bei dem am 14. Juni 2023 Hunderte von Migranten ums Leben kamen. Am Mittwoch sprachen die beiden Syrer an einer von der deutschen NGO Pro Asyl organisierten Medienkonferenz. Sie forderten Gerechtigkeit und dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen würden.
Ägypter als Sündenböcke?
Die Forderung nach Bergung des Wracks ist menschlich verständlich, technisch dürfte sie sich schwierig gestalten. So sank die Adriana an einer der tiefsten Stellen des Mittelmeers in internationalen Gewässern, unklar ist, wer für eine Bergung zuständig wäre. In der Tat gestaltet sich aber die juristische Aufarbeitung der Tragödie zäh. Insbesondere geht es um die Rolle der griechischen Küstenwache, die für diese Region zuständig ist, wenn es um Rettungseinsätze geht.
Am 14. Juni 2023 kenterte rund 80 Kilometer vor der griechischen Südküste der völlig überladene Fischkutter. Bis zu 750 Personen befanden sich auf dem seeuntüchtigen Schiff, das am 10. Juni vom libyschen Hafen Tobruk aus gestartet war. Hunderte von Menschen – hauptsächlich aus Syrien, Pakistan und Ägypten – fanden den Tod.
104 Männer überlebten das Unglück, 78 Leichen konnten geborgen werden. Auch Frauen und Kinder sollen an Bord gewesen sein, sie waren mutmasslich im Unterdeck eingeschlossen, so dass von ihnen niemand überlebte.
Direkt nach dem Schiffsunglück wurden neun überlebende Ägypter als mutmassliche Schlepper verhaftet. Ihnen wurde die Bildung einer kriminellen Vereinigung, Gefährdung auf hoher See sowie fahrlässige Tötung vorgeworfen.
Über elf Monate verbrachten die Ägypter in Haft. Der Prozess gegen sie begann am 21. Mai. Bei einer Verurteilung hätte ihnen lebenslange Haft gedroht. Das Berufungsgericht in Kalamata erklärte sich jedoch am selben Tag für nicht zuständig, da sich das Schiff in internationalen Gewässern befunden habe. Es sprach die Ägypter auch vom Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Einreise frei.
Warum das Schiff kenterte, ist noch immer ungeklärt. Überlebende behaupten, die Küstenwache habe das Schiff bei einem gescheiterten Abschleppversuch zum Kentern gebracht. Die Behörden dagegen sagen, die Bewegungen der Migranten auf dem Schiff hätten zu dessen Sinken geführt. Die Menschen an Bord hätten zuvor jede Hilfe verweigert.
Seit einem Jahr läuft vor dem Seegericht in Piräus eine Untersuchung gegen die Küstenwache. Die Ermittlungen befinden sich noch immer in einem vorläufigen Stadium. Mit Ergebnissen ist laut der Juristin Eleni Spathana von Refugee Support Aegean (RSA) nicht vor Ende des Sommers zu rechnen. Dann wird sich entscheiden, ob es zu einem Prozess kommt. Spathana und andere griechische Anwälte haben im Namen von 53 Überlebenden eine Klage gegen die griechische Küstenwache eingereicht. Sie wollen notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen. Auch eine Klage gegen Frontex ist laut Spathana in Vorbereitung.
Im vergangenen November leitete auch der griechische Ombudsmann eine Untersuchung ein, nachdem die Küstenwache seine Forderung nach einer internen Untersuchung zweimal abgelehnt hatte.
Eine wichtige Rolle könnten mehrere Mobiltelefone spielen, die bei der Staatsanwaltschaft in Kalamata unter Verschluss sind. Laut Aussagen von Überlebenden hatten sie damit das Geschehen auf offener See gefilmt, einschliesslich des Anlegens des Fischerboots und des Versuchs, es durch die Küstenwache abzuschleppen. Ihre griechischen Anwälte fordern das Vorlegen aller möglichen Beweismittel.
Internationale Medien und NGO haben versucht, zu rekonstruieren, wie die letzten Stunden der «Adriana» verliefen. So sei die griechische Küstenwache bereits fünfzehn Stunden vor dem Untergang darüber informiert gewesen, dass es ein seeuntüchtiges Schiff in ihrem Einsatzbereich gebe. Auch habe es Berichte über zwei Tote an Bord gegeben. Doch die griechischen Behörden griffen nicht ein. Auch die Grenzschutzagentur Frontex kontaktierte die Griechen – doch wieder passierte nichts. Erst am Nachmittag schickten sie einen Helikopter aus der anderen Ecke des Landes los. Auf Luftaufnahmen sieht man, wie die Bootsmigranten hilfesuchend gestikulieren.
Noch später dann wurde gemäss dieser Rekonstruktion das Patrouillenschiff «920» von Kreta losgeschickt – aber kein Rettungsboot von der näher gelegenen Küste der Peloponnes. Die «920» hatte nur rund 50 Schwimmwesten und wenige Rettungsringe an Bord. Erst nach Mitternacht, es war bereits der 14. Juni, meldet die «920», man bereite eine Rettungsaktion vor – das war eine halbe Stunde vor dem Untergang der «Adriana».