Seit 44 Jahren erobert Gardi Hutter als Hanna Theaterbühnen auf der ganzen Welt. Doch bald ist damit Schluss. Im Herbst will sie sich neu erfinden.
An diesem Abend ist Hanna in der Rolle der Souffleuse. Die Geschichte erzählt von der Einflüsterin im Theater, deren Wort nur gefragt ist, wenn die im Licht den Faden verlieren. Und als das Theater für immer geschlossen wird, hat niemand daran gedacht, ihr den Umzug mitzuteilen. Hanna geht im Souffleusenkasten vergessen und fristet ein trauriges Dasein. Sie kann sich jedoch mit skurrilen Ideen aufheitern – und strampelt schusselig nach dem Glück. Plötzlich kleben zwei Spiegeleier an ihrem Hintern.
Es ist eines der letzten Male, da Hanna auftritt, diese Clown-Figur, die ihre Schöpferin und Darstellerin Gardi Hutter berühmt gemacht hat. Nach der gegenwärtigen Tournee soll Schluss sein, Hutter will ihre Hanna-Solos nicht länger spielen. Die Dernière ist für Mitte August in St. Gallen geplant, dann ist Hutter 72-jährig. Es wird das Ende eines Stücks Schweizer Kulturgeschichte sein – nach «44 Jahren Tour und 4444 Vorstellungen», wie auf ihrem Flyer steht.
Hutter steht an diesem Februarabend auf einer Bühne im ländlichen St. Gallen, in einem Ort, wo gerade die Fasnacht ansteht. Das «Alte Kino» in Mels ist bis auf den letzten Platz gefüllt, wie schon 1986, als das Kleintheater mit einer Vorstellung von Hutter eröffnet wurde. Hanna ist immer noch ein Kassenschlager. Anfangs dachte Hutter, die Figur würde vielleicht drei, vier Jahre Erfolg haben. Nun ist Hanna älter als ihre zwei Kinder.
Das Publikum leidet und lacht mit. Womit Hutter erreicht, was sie mit Hanna erzeugen will: Erlösung, Entkrampfung – trotz trister Situation. Die Souffleuse ist die einzige Hanna-Rolle, in der die Protagonistin nicht stirbt, im Gegensatz etwa zur Schneiderin oder zur Wäscherin. Am Schluss schafft es die Souffleuse, ins Licht hinaufzusteigen, sie erfährt Befreiung.
Gardi Hutter trotzt dem Alterungsprozess und gelingt es, Hanna als zeitlose Figur erscheinen zu lassen. Wenn Hanna mit ihrem Bett kämpft, das unvermittelt zusammenklappt, sind ihre Bewegungen so flink wie vor Jahrzehnten. «Auftritte sind für mich das beste Training», sagt Hutter nach der Vorstellung.
«Die Zeit war reif für eine komische Frau»
Fünf Stunden zuvor sitzt Gardi Hutter ungeschminkt und unverkleidet in ihrer Garderobe. Sie trägt eine handgefertigte Strickjacke, an ihrem Tessiner Wohnort trifft sie sich regelmässig mit Frauen zum Lismen. Frage an Hutter: Warum hat Hanna damals so eingeschlagen?
Hutter kommt zum Schluss, dass der Moment günstig gewesen sei für einen Feldzug gegen die altbekannten Klischeevorstellungen und Rollenbilder. Unter den damaligen Schönheitsidealen hätten viele gelitten – und im Kampf gegen Selbstzweifel in Hanna Trost gefunden. Der Zuschauer habe im Idealfall gedacht: «Da ist eine Figur, der es noch schlechter ergeht als mir.»
Hutter bewies Mut zur Hässlichkeit; sie überschminkte angebliche Mängel nicht, sondern verstärkte sie. Und sie missachtete sogenannte weibliche Tugenden. Es gab Theaterkritiker, die es unappetitlich fanden, wenn eine Frau auf der Bühne krampfte, stampfte und schwitzte, aber diese Sichtweise schien der Figur Hanna nur noch mehr Auftrieb zu verleihen. Feministisch motiviertes Theater, das nicht anklagte, sondern auslachte, kam in Europa auf. Hutter sagt: «Die Zeit war reif für eine komische Frau, die nicht Opfer ist, sondern Gestalterin.»
Und weil sich Hanna auf der Bühne fast nur über Mimik und Emotionen mitteilt, hat ihr die Sprache keine Grenzen gesetzt. Dank dieser Ausdrucksweise konnte sie problemlos auch in der tunesischen Wüste auftreten oder in China. Wobei sie in China schon zurückhaltender habe spielen müssen, um das Publikum einzufangen, sagt Hutter.
Hat sich in ihrem Spiel generell etwas verändert im Vergleich zu 1981? Hutter sagt: «Ich bin nicht mehr getrieben von Wut und Trotz. Anfangs trat ich aggressiver auf, es ging um weibliche Selbstbehauptung.»
Die Hanna-Stücke könnten auch eine Metapher sein für Hutters Leben, das sie in ihrer Biografie «Trotz allem» schildert, die 2021 im Verlag Hier und Jetzt erschienen ist. In Altstätten im St. Galler Rheintal in einer streng katholischen Kleinbürgerfamilie aufgewachsen, fühlte sich Hutter als einziges Mädchen unter vier Kindern oft allein. Sie hatte den Eindruck, anders zu sein.
In diesem Milieu lautete die Devise: Mädchen nehmen sich zurück, ordnen sich unter, und ihre berufliche Ausbildung ist hinausgeworfenes Geld. Aber Gardi – Taufname Irmgard – konnte nichts mit diesem Muster anfangen. An der Geschichte der Märtyrerin Jeanne d’Arc, als Hexe verbrannt und als Nationalheilige verehrt, fand sie mehr Gefallen. «Gardi spinnt», habe es manchmal am Familientisch geheissen. Anerkennung und Liebe waren an Gehorsam geknüpft.
«Micky Maus»-Hefte galten als Schund und wurden von der Mutter ebenso verbrannt wie ein Paar Hosen – Mädchen hatten Röcke zu tragen. Sich mit einem Protestanten einzulassen, wäre ein sündiges Vergehen gewesen. Die Familie grenzte sich ab.
Die Fasnacht erlaubte Gardi Hutter jeweils, sieben Tage im Jahr in eine verkehrt-verrückte Welt einzutauchen. Der Brauch prägte sie als Jugendliche. Die Kostüme bekam sie von ihren Eltern, die im Städtchen eine Schneiderei und ein Modehaus führten.
Gruseln und Lachen, Erschrecken und Feiern. Das Spiel mit den Gegensätzen und das Pendeln zwischen den Welten faszinierten sie. An der Fasnacht war Gardi auch einmal die Prinzessin, die sie nach Ansicht ihrer Mutter im richtigen Leben nicht war, weil sie lieber mit ihren Brüdern im Wald herumtollte.
Doch Hutter sollte auch zur Fasnacht ein ambivalentes Verhältnis entwickeln. Als Teenager ärgerte sie, dass in ihrem Städtchen nur Männer sich als schöne Röllelibutzen oder Ribelbüüchwiiber, die das Feminine ja sogar im Namen trugen, verkleiden durften. Frauen schauten zu oder waren Ehrendamen.
Heute schmunzelt sie darüber, und die Fasnacht liebe sie, sagt Hutter. Als sie 2007 in der «NZZ am Sonntag» gefragt wurde, was ihr grösster beruflicher Erfolg sei, antwortete sie: «Ich bin ein Original geworden.» Es gebe Leute, die als Gardi Hutter an die Fasnacht gingen.
Inspiriert von dicker Sklavin
Hutter weiss, dass ihre Kindheit ihre Karriere geformt hat. Ohne die elterliche Strenge wäre sie kaum in ein katholisches Mädcheninternat am Bodensee gekommen. Und der Alltag dort war so ereignislos, dass er Raum liess, um Phantasien zu erfinden, immer mit dem Beatles-Klassiker im Ohr: «All you need is love.»
Im Internat lernte Gardi auch, wie man korrekt mit einem Besen umgeht. Etwas, was Hanna auch beherrschen wollte – wie sie 1991 im Nationalratssaal demonstrierte, als sie zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft als eine Art Hofnärrin Parlamentarierinnen erheiterte.
Wurde Hutter als Teenager etwas untersagt, versuchte sie es mit umso mehr Neugier zu entdecken. Sie lebte wohlbehütet in einem Einfamilienhaus, es zog sie in Altstätten jedoch immer wieder an die Kugelgasse, wo ärmere Leute wohnten und wo es wilder und gefährlicher zu- und herging. Sie sog den Geist der 68er-Bewegung auf und rebellierte gegen Verbote und Zwänge, wie etwa gegen das aus ihrer Sicht absurde Konkubinatsverbot in St. Gallen.
Durch die bäuerliche Herkunft ihrer Eltern lernte Hutter früh auch eine Arbeitsamkeit kennen, die sie für ihre Karriere benötigte. Als Jugendliche hütete sie in den Ferien Kühe und Schafe, sie stand in der Sonnencrème-Fabrik am Fliessband oder schenkte an der Olma für den Bauernverband Kaffee aus. In jüngeren Jahren als Künstlerin lebte sie auf einem Campingplatz zwischen Mittellosen. Es machte ihr nichts aus, in Schlachthäusern, Kellern, Scheunen oder Garagen aufzutreten.
Hätte es als Clownin nicht geklappt, wäre Hutter Schreinerin geworden. Und dieses Szenario war nicht einmal so unrealistisch. An der Schauspielakademie in Zürich hatte es geheissen, sie werde nie eine Hauptrolle bekleiden, dafür sei sie zu klein. Und als sie nach Italien auswanderte, um ihren Traum von der grossen Bühne weiterzuverfolgen, fühlte sie sich manchmal wie das fünfte Rad am Wagen. Ihr damaliger Freund und späterer Ehemann hatte mit seinem komischen Bühnenpartner schon einen eigenen Clown-Stil erfunden, da passte sie nicht mehr hinein.
Doch ausgerechnet dieser Zwang, sich anderer Projekte annehmen zu müssen, führte zum grossen Glück. In einer Nebenrolle als dicke Sklavin bekam Hutter überraschend viel Gelächter und Applaus, auch, weil die Figur so viel Mitleid erregte. Und das sollte die Inspiration für Hanna liefern, die Hauptrolle schlechthin.
Mit den Eltern im Reinen
Gardi Hutter sagt, heute, da sie vieles aus ihrem Leben verarbeitet habe, spiele sie ihre Rollen «weicher, leichter, ironischer». Den Schock, dass die Liebesbeziehung zum italienischen Mann, mit dem sie Hanna erschuf, in die Brüche ging, hat sie überwunden. Und die Schuldgefühle, die ihr ihre Erziehung mitgab, ist sie losgeworden.
Mit ihren Eltern ist sie im Reinen, sie konnte sich mit ihnen aussprechen. 2005 starb die Mutter, 2010 der Vater, anschliessend begann Gardi Hutter, Hanna in der Rolle als Schneiderin zu spielen. Man kann diesen Vorgang als Reminiszenz an ihre Eltern verstehen. In der Biografie steht, dass der Vater sie als Kind auch einmal bestraft habe, diese Rolle aber gar nie zu ihm gepasst habe. Vielmehr habe er ihr Optimismus und Risikobereitschaft vorgelebt. Sie wirkt mit ihrer Biografie versöhnt.
Am ehesten scheint an ihr zu nagen, wie pickelhart es für ihre Kinder ist, die sich in Südfrankreich im gleichen Genre wie sie versuchen. Die Auftrittsorte seien heute dünner gesät, die Zahl der Künstler habe sich verzehnfacht und es zähle auch aus wirtschaftlichen Gründen oft vor allem die schnelle Pointe, sagt Hutter.
«Komik hat es heute schwerer, weil in unserem Leben alles erlaubt ist. Und weil es anders als in einer repressiven Gesellschaft nicht mehr diesen klaren, gemeinsamen Feind gibt. Zudem wollen die Menschen in sorgenvollen Zeiten weniger Neues entdecken und eher an Bewährtem festhalten.» Hutter ist bewusst, dass es mit ihrem Namen einfacher ist, als Künstlerin zu überleben.
Aber tritt Hanna tatsächlich für immer ab? Schliesslich heisst es in Hutters Biografie: «Komische Figuren sterben nicht.» Es gebe Aufstehmännchen und Aufstehweibchen.
Geburt statt Tod
Im Herbst will sich Hutter neu erfinden – und noch einmal in stark veränderter Rolle auf Tournee gehen. Die neue Figur wird zierlicher sein als die kugelrunde Hanna und keinen Beruf haben; eine Art Wurzelfee.
Und sie wird auf einer leeren Bühne stehen, mit einem Koffer als einzigem Requisit. Hutter sagt, endlich solle in ihrem Programm die Geburt im Zentrum stehen und nicht der Tod. «Gardi zero» heisst der Titel des Stücks. Sie sagt: «Die Pflicht ist getan, nun wage ich mich an die Kür.»
Aber wieso hört sie mit 72 nicht auf? «Mir würde weder der Applaus noch das Geld fehlen. Es geht mir darum, weiter mit meinem Publikum einen Rausch der Gefühle zu erleben, eine tiefe Berührtheit zwischen Lachen und Weinen. Mit dem Privileg, dieses Ritual anleiten zu dürfen. Das gibt mir Resonanz und Relevanz.»
Nur ein Traum hat sich noch nicht erfüllt. «Eine saftige Rolle im Film», wie es Hutter formuliert. Auch wenn sie als Schauspielerin dann das wäre, was sie eigentlich nie sein wollte: fremdbestimmt.
Vielleicht sei sie für den Film zu schwarzhumorig und zu wenig massentauglich, sagt Hutter. Sie hat die Hoffnung aber nicht aufgegeben. In ihrer Biografie erinnert sie sich an Stephanie Glaser, die ihre erste Filmhauptrolle auch erst mit 86 gekriegt habe. «Da habe ich ja noch ein bisschen Zeit.»