Der jüdische Schriftsteller Dmitrij Kapitelman ist in Kiew geboren und lebt in Berlin. Im Gespräch sagt er, dass er zu grosse Angst habe, um in den Krieg zu gehen. Auch nach Israel möchte er nicht auswandern. Er sei nicht geschaffen für das Land.
Herr Kapitelman, Sie sind 1986 in Kiew geboren, leben seit 1994 in Deutschland und sind jüdisch. Da kommt mit den Kriegen in der Ukraine und in Gaza sowie mit dem Aufflammen des Antisemitismus gerade sehr viel zusammen in Ihrem Leben. Was bereitet Ihnen von alldem am meisten Kummer?
Ich mache mir grosse Sorgen, dass die Solidarität mit der Ukraine bröckelt. So langsam verschwinden die Fähnchen wieder von den Rathäusern und Balkonen in Deutschland. Wie sagte Ursula von der Leyen zu Beginn des Krieges? «As long as it takes» – ich bezweifle, dass das so sein wird, leider. Auch in der Ukraine selbst fehlen allmählich die Mittel, um sich effektiv zu verteidigen. Weil – trotz Zusagen der EU – nicht genug geliefert wird. Ich befürchte also, dass die Ukraine den Krieg verlieren könnte. Und nach dem 7. Oktober dringt parallel ein weiteres Trauma auf uns ein. Wenn so eine Abstufung denn möglich ist, setzt mir wohl der Krieg gegen die Ukraine unmittelbarer zu. Schlicht geografisch, aber auch familiär. Obwohl wir aus Kiew kommen, steht meine Mutter auf der russischen Seite.
Wie kommt das?
Meine Mutter wurde in der Republik Moldau geboren, hatte einen russischen Vater, der die Familie früh verliess, und kam als junge Frau in die Ukraine. Wo Russisch ihre Muttersprache wurde. Und sie einen Juden heiratete. Auch keine Selbstverständlichkeit in der damaligen Sowjetunion, die das Judentum zu einer Nationalität umdeutete und somit ausgrenzte. Meine Mutter hat also eine recht komplizierte multinationale sowjetische Biografie. Wie so viele Menschen ihrer Generation. Das muss man bedenken.
Trotzdem: Sie lebt in Deutschland und könnte Putins Lügen durchschauen.
Sie befürwortet den Krieg zwar nicht, aber sie glaubt an die russische Rechtfertigung der «Spezialoperation». Glaubt der russischen Propaganda, die vom Recht auf Selbstverteidigung gegen die Nato und gegen das faschistische, nationalistische Kiewer Regime spricht. Diese angebliche Notwehr gegen den Westen, die Putin immer wieder hervorholt, ist in postsowjetischen Kreisen viel wirkmächtiger, als man es im deutschsprachigen Raum wahrnimmt. Dann ist da noch eine kulturelle Gefolgschaft, die sich auch in der Sprache zeigt. Das macht es für mich so kompliziert. Denn für mich ist Russisch noch immer die Muttersprache, die Sprache meiner Mutter.
Wie gehen Sie mit dieser Situation in Ihrem Elternhaus um?
Es gibt natürlich die Möglichkeit, nicht über Politik zu sprechen. Der Preis wäre der Verrat an den eigenen Überzeugungen, um bei der Familie zu sein. Man verrät in gewisser Weise auch die Ukraine. Aber auch der Streit hat einen hohen Preis. Dann glaubt man zwar, wahrhaftig geblieben zu sein, aber dann ist nicht nur das Zwischenmenschliche sehr schwierig, sondern man gewinnt ja auch nichts. Meine Mutter ist noch nie aufgestanden und hat gesagt, ach so, ja, dann werde ich die russische Seite noch einmal kritisch hinterfragen.
Das hört sich nach einem unlösbaren Konflikt an.
Ähnliche Risse gehen durch die meisten postsowjetischen Familien. Wir sind da keine Besonderheit. Wo russisches Staatsfernsehen und Telegram-Kanäle sind, ist meist auch ein Verwandter, der ihnen glauben will. Und das übrigens auch schon seit 2014, seit der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn im Osten der Ukraine. Seitdem misstrauen meine Mutter und ich einander politisch grundsätzlich. Und würden doch – als eng verbundene Familienmitglieder – jederzeit das eigene Leben liebend in die Hände des anderen legen. Diese Schizophrenie zerreisst mich manchmal.
Wie zeigt sich diese innerfamiliäre Frontlinie konkret?
Ein Beispiel: Wir sitzen an Silvester zusammen. Im Fernsehen läuft ein russisches Konzert. Schlager für Slawen, üble Hochglanznummer, aber harmlos. Ich entspanne mich, freue mich über die osteuropäischen Speisen, Schuba, Olivier, Kaviarbrote, die Mama schon damals in Kiew aufgetischt hat. Geniesse so sehr, mit diesen Menschen Russisch zu sprechen. Und plötzlich tauchen russische Kriegsgeneräle als Gastredner beim Konzert auf. Stossen auf den russischen Sieg an. Mord, Vergewaltigung, Butscha, alles ist plötzlich mitten unter uns. Dann erstarre ich und fühle mich schlagartig mutterseelenallein in meiner eigenen Familie.
Versucht Ihre Mutter, Sie von ihrer Haltung zu überzeugen?
Meine Mutter startet immer wieder einmal kleine ideologische Offensiven. Pro Woche bekomme ich etwa einen Enthüllungsclip zugeschickt, der zeigen soll, wie es wirklich in der Ukraine sei. Ich glaube, sie fühlt sich sehr missverstanden und leidet darunter. Denn aus ihrer Perspektive, die ihr die russische Medienmaschinerie eingebleut hat, ist Russland im moralischen Recht. Russland befreit, Russland schützt die Zivilisten, die russischen Soldaten verteilen Schokolade an Kinder und bauen die zerstörten Städte in Windeseile wieder auf. Städte, die das ukrainische Militär zerstört habe, rücksichtslos die eigene Bevölkerung bombardierend und Hitlergrüsse zeigend. Erschreckenderweise hilft es auch nicht, wenn unsere Freunde in der Ukraine meiner Mutter entsetzt entgegenhalten, dass das absolut nicht wahr ist.
Wie hält Ihr Vater die Situation aus?
Mein Vater hat zu sämtlichen Staatlichkeiten ein eher ambivalentes Verhältnis. Gegenüber dem Krieg empfindet er nichts als Entsetzen. In der Ukraine war er als Jude sehr oft mit Antisemitismus konfrontiert. Ebenso in Russland. Und auch in Deutschland. Nur nicht in Israel. Wobei auch mein Vater seine Traumata nach dem 7. Oktober ein wenig umschichten musste. Er glaubt nicht mehr daran, dass man als Jude je wirklich sicher leben kann. Ihn diese Lebensbilanz ziehen zu sehen, als 1955 geborener Mensch, die erste Generation nach der Shoah, ist unglaublich traurig.
Haben Sie einmal erwogen, in die Ukraine zurückzukehren und Soldat zu werden?
Ich habe mich gefragt, ob ich mich als Soldat melden sollte, wenn mir das Überleben der Ukraine so wichtig ist. Aber es ist ja fast so etwas wie eine kindliche Vorstellung. Man geht da jetzt hin und nimmt eine Waffe in die Hand, und dann gewinnen wir. In Wahrheit habe ich viel zu grosse Angst. Ich bin kein Soldat, ich bin Schriftsteller und Journalist. Ich versuche in dieser Hinsicht das zu tun, was ich am besten kann.
Was kann die Literatur in einer solchen Situation leisten?
Ich halte es für wichtig, sich an solchen Schizophrenien, wie ich sie eben geschildert habe, abzuarbeiten. Schreibend zurück zu unserem menschlichen Kern zu kommen. Einem Kern, der von so vielem historischem und politischem Ballast verschüttet ist. Die Literatur wäre nicht viel wert, wenn wir durch sie nicht wieder fühlen könnten. Und Krieg ist das absolute, nonverbale Gegenteil von Literatur. Gleichzeitig muss Literatur auch festhalten. Denn irgendwann werden die Waffen in der Ukraine wieder schweigen. Dann werden wir mehr denn je wahre Worte über diese Zeit brauchen.
Glauben Sie, dass in Russland derzeit eine ganze Generation beschädigter Menschen heranwächst, die in einem Verblendungszusammenhang stecken?
Wenn man sich Russlands grausame Geschichte des 20. Jahrhunderts anschaut, bolschewistischer Terror, Hitlers Feldzug mit Millionen Toten, anschliessend Stalins Schreckensherrschaft, immer und überall der KGB, und am Ende fällt die Jahrhundertidee vom Sowjetstaat einfach in sich zusammen – da glaube ich nicht, dass das die erste geschädigte russische Generation ist. Das alles ist ganz sicher noch Teil der Gegenwart, so viel Blut verfliesst nicht einfach. Erst recht, da Putin die sowjetische Geschichte wieder in den schönsten Farben malen will. Aber er trifft dabei auf eine Generation, die keinen anderen Präsidenten und kein anderes System kennt als seines.
Indem Putin die Geschichte umschreibt, befördert er doch zusätzlich die kontrafaktische Umdeutung von allem?
Vielleicht führt das nicht so sehr zu Verblendung, auch die Leute in Russland haben Internet und einen Menschenverstand. Womöglich sprechen wir von einer gleichgültigen Generation. Das wäre viel schlimmer. Denn Ideologien muss man von Zeit zu Zeit hinterfragen. Aber was will man gegen Gleichgültigkeit tun?
Niemand weiss, wie dieser Krieg beendet werden kann. Anders als mit Verhandlungen wird es nicht gehen. Aber kann man sich Verhandlungen überhaupt vorstellen unter den gegebenen Voraussetzungen?
Das ist jenseits der Vorstellungskraft, solange Putin Russlands Präsident und autoritärer Herrscher ist. Es ist auch politisch nicht vermittelbar, Gebiete an Russland preiszugeben. Gerade in den seit Februar 2022 von Russland eroberten Gebieten würde es bedeuten, dass man die Menschen dort aufgibt, dass man sie verrät. Ich glaube nicht, dass Selenski das politisch überleben würde. Die Ukraine wird lange brauchen, um das zu verarbeiten, was in diesem Krieg passiert ist. Hier sprechen wir wirklich von einer verlorenen, weil ermordeten Generation. Wie soll man sich nach solchen Greueln hinsetzen und sagen, jetzt machen wir einen Vertrag? Woher soll das Vertrauen kommen? Solange es diesen Terrorstaat gibt, sehe ich keine Möglichkeit für eine Verhandlungslösung.
Die Ukraine hat seit Juni 2022 den Status eines Beitrittskandidaten der EU und hat unlängst von der EU grosse finanzielle Zusicherungen erhalten. Gibt das Hoffnungen für die Zukunft?
Dass es für die Ukraine eine realistische EU-Perspektive gibt, ist ein politischer Faktor, der mich zuversichtlich stimmt. Die Schwierigkeiten aber sind immens. Es ist wie eine Operation am offenen Herzen. Während die Gefahr besteht, dass dieses Land erobert und unterworfen wird, sofern die Militärhilfe ausbleibt, soll das Land in den friedlichsten und stabilsten Staatenverbund, den es gibt, aufgenommen werden. Das ist ein Signal, vielleicht klammere ich mich auch einfach daran.
Haben Sie Bekannte in der Ukraine, die an der Front sind oder waren?
Ich habe einen Freund, der bei der Territorialtruppe in Kiew eingeteilt war. Als sich die Lage stabilisiert hat, ist er dazu angehalten worden, wieder arbeiten zu gehen. Er arbeitet also wieder in Kiew als Informatiker, und nun regt er sich darüber auf, dass er inmitten dieser militarisierten Gesellschaft und der austrainierten Männer als Informatiker dick geworden ist.
Muss man sich das Leben in Kiew auch etwas schizophren vorstellen? Im Osten und im Süden herrscht Krieg, dazu kommt die ständige Bedrohung durch Raketen- und Drohnenangriffe, und trotzdem simuliert man so etwas wie Normalität.
Eine Bekannte hat die Situation ganz gut zusammengefasst. Es ist ein Nochzustand. Ja, sagt sie, wir haben Strom, das heisst, wir haben noch Strom. Ja, ich gehe zur Arbeit, ich gehe noch zur Arbeit. Das ist brutal, weil nichts mehr im Leben und im Alltag selbstverständlich ist. Alles scheint provisorisch zu sein, bis die nächsten Raketen fliegen. Ich weiss nicht, wie die Menschen so etwas aushalten. Und alle sind ja noch in diesem Überlebens- und Durchhaltemodus. Aber die Wunden, die da entstanden sind, die sieht man noch gar nicht.
Sie haben den Autoritarismus in Russland angesprochen. Wir sehen ähnliche Muster in anderen Ländern, wo illiberale Regierungen oder Parteien ein verführerisches Angebot machen. Wieso sind autoritäre politische Programme derzeit für viele Menschen so attraktiv?
Weil sie auf fast alles verantwortungslos einfache Antworten geben. In einer unglaublich komplizierten Zeit. Es wird nicht reichen, die eigene Tür abzuschliessen, wenn die Welt da draussen brennt. Die rechten Hetzer müssen sich nicht an der Wahrheit messen. Sie erschaffen einfach eine eigene. Oder ganz viele beliebige. Die Lüge ist immer leichter. Oft auch viel hübscher. Sie fordern ihre Zielgruppen auch niemals zu Selbstkritik oder Eigenverantwortung auf. Die anderen sind immer die Schuldigen. Das ist emotional verführerisch. Ebenso ist es der rechte Revanchismus. Die da oben jetzt endlich einmal abstrafen und die Glückspilze in den Flüchtlingsbooten gleich dazu! Dabei denkt kaum einer darüber nach, was das für einen selbst bedeutet. Ich weiss nicht, wie viele AfD-Wähler für sich durchdacht haben, welche Folgen die Wirtschaftspolitik einer AfD für sie ganz persönlich haben wird. Schliesslich kommt ein erheblicher Anteil an Rassismus hinzu.
Sprechen Sie von Rassismus gegen Migranten – oder auch gegen Juden?
Die Juden sind ja noch das Feigenblatt der AfD, aber natürlich sind auch die Juden betroffen. Sobald die Menschenwürde grundsätzlich in Gefahr ist, muss man als Jude mit Pogromen rechnen. In Leipzig wurden am Holocaust-Gedenktag auf dem Marktplatz Porträts von Shoah-Überlebenden aufgestellt, viele wurden danach mit einem Hitler-Schnauz beschmiert. Im sächsischen Freital sollte ein AfD-Mann die Holocaust-Gedenkrede halten. Das ist unerträglich.
Paradoxerweise gab es ausgerechnet nach dem Massaker der Hamas eine neue Welle des Antisemitismus. Als wäre Israel und als wären die Juden die eigentlichen Schuldigen des Massakers vom 7. Oktober.
Es ist immer eine Gefahr, jüdisch zu sein. Immer gewesen, ich habe es nie anders kennengelernt. Natürlich ist der Antisemitismus auch hier in Berlin zu spüren. Briefkästen mit jüdischen Namen wurden markiert. Man hat Eier gegen Fenster geworfen, wo Juden wohnten, und am Fenster, in dem meine Menora stand, ist auch ein Ei gelandet. Das ist etwas, was schon immer da war, aber es erreicht jetzt eine neue historische Eskalation.
Erleben Sie das auch persönlich?
Es gibt anscheinend ein sehr grosses Verlangen, auch in linken Kreisen, Israel für alles die Schuld zu geben. Ich habe einen libanesischen Freund, über den andere Leute sagen, mit dem kannst du nicht mehr befreundet sein, der unterstellt Israel einen Genozid in Gaza. Ironischerweise ist er auch vor kurzem in die Partei Die Linke eingetreten. Was mich wiederum mit Sicht auf die Ukraine fassungslos macht. Ich sehe es aber nicht ein, mit diesem Menschen zu brechen. Und ich glaube einfach nicht daran, dass mein Freund auch nur einen hasserfüllten Knochen in sich hat. So wie ich glaube, dass sehr viel verloren wäre, wenn wir zwei unsere Freundschaft kündigen.
Aber Sie reden miteinander über die Hamas und den Krieg in Gaza?
Wir sprechen darüber im Vertrauen darauf, dass wir uns einig sind, dass keine unschuldigen Menschen umgebracht werden dürfen. Nie. Ich kann von diesem Menschen nicht erwarten, dass er Israel sieht wie ich. Für ihn ist Israel eine aktive Kriegspartei gegenüber seinen Verwandten. Aber ich kann von ihm erwarten, dass er anerkennt, was den Menschen in Israel angetan wurde. Solange diese Bereitschaft und dieses Verständnis vorhanden sind, reden wir zusammen. Trauern und lachen wieder zusammen.
Haben Sie sich je einmal überlegt, nach Israel auszuwandern?
In meinen Mittzwanzigern hatte ich einmal diese Phantasie der Rückkehr nach Israel, bedingt durch eine Überdosis jüdischer Identifikation. Aber ich habe zum Glück rechtzeitig festgestellt, dass ich ganz und gar ungeeignet bin für ein Leben im Nahen Osten. Ich bin ein kleiner braver ostmitteleuropäischer Jude, der Leuten die Vorfahrt lässt und ein ganz klein wenig an Friedrich Schillers edelmütiges Menschenbild glaubt. Ich funktioniere in Israel überhaupt nicht. Ich bin nicht mit Krieg aufgewachsen. Ja, selbst am Unterhosenkaufen bin ich in Tel Aviv sprachlich gescheitert. Ich verstehe kein Hebräisch und schon gar nicht die unausgesprochenen kulturellen Codes. Ich habe jedenfalls gelernt, dass ich für mich selbst und auch andere am sinnvollsten in Deutschland bin.
Hat sich Ihre Haltung nach dem Massaker der Hamas verändert?
Ich vermisse Israel stärker. So seltsam das vielleicht auch klingen mag nach meiner vorhergehenden Antwort. Und mache mir Sorgen, ob dieses immer noch recht junge Land das alles übersteht. Sorgen darüber, wie defaitistisch und verschlossen meine israelischen Bekannten am Telefon klingen. Ich frage mich, wie viele Traumata denn noch in diese Gesellschaft passen sollen, die überhaupt erst durch den Holocaust dort konstituiert wurde. Und seitdem keinen Frieden kennt. Es ist beängstigend, wie viele Menschen dem jüdischen Staat Auslöschung und Tod wünschen.
Ist Israel also ein geistiges Vaterland, in dem Sie aber nicht leben möchten?
Ich habe zwei längere Reisen mit meinem Vater durch Israel gemacht. Ein Land, das er sofort als sein eigenes angenommen hat. Nachdem er sein Leben lang überall fremd gewesen war, in der Ukraine und ebenso in Deutschland. «Hier bin ich Jude unter Juden. Hier bin ich endlich sicher.» Das ist eine Nähe und Verbundenheit, die nie mehr verschwinden wird. Da kann ich mich noch so lange an Netanyahu und seiner Politik stören. Und schon ist man bei der nächsten Schizophrenie. Das, was man für ein Land fühlt und darin sieht, ist etwas ganz anderes als das, was es tatsächlich verkörpert. Es bleibt aber das Land meines Vaters.
Also keine Auswanderung, trotz enger Verbundenheit?
Ich würde im Moment auch einfach niemandem den Erfolg gönnen, dass ich auswandere. Da muss man sich auch ein wenig zügeln.
Ist das der wichtigste Grund, wieso Sie in Deutschland bleiben?
Nein, ich bleibe, weil mein menschlicher Kern sich am ehesten in Deutschland bewahren lässt. Nicht zuletzt durch die deutsche Sprache. Und weil die Menschen, die ich liebe, in diesem Land zu Hause sind. Vielleicht bleibe ich aber auch ein wenig aus jüdischem Trotz in Deutschland.
In Kiew geboren, in Berlin zu Hause
rbl. · Wir treffen uns in einem georgischen Lokal unweit der Synagoge an der Oranienburger Strasse in Berlin. Rasch wird klar, warum Dmitrij Kapitelman das Lokal ausgesucht hat: Hier fühlt er sich zu Hause. Er kann, ohne unter nationalistischen Russen zu sein, mit dem Personal Russisch sprechen. Und die Speisekarte erklärt er mit so viel Begeisterung, dass man denkt, er möchte einem am liebsten alles empfehlen. Die offerierten Knoblauch-Gurken lassen wir fürs Erste stehen, nicht jedoch den ebenfalls schon vor dem Lunch gereichten Kirschlikör.
1994 kamen der achtjährige Dmitrij Kapitelman und seine Familie als sogenannte jüdische Kontingentsflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland. Zum Schutz vor antisemitischer Verfolgung in der Sowjetunion war er mit dem Nachnamen seiner aus der Republik Moldau stammenden Mutter aufgewachsen. Den Namen des Vaters konnte er erst nach seiner Einbürgerung in Deutschland annehmen. In seinem 2021 erschienenen Roman «Eine Formalie in Kiew» erzählt er von den dafür notwendigen Behördengängen in Kiew und der Wiederbegegnung mit der Stadt seiner Kindheit.
2016 hatte Kapitelman mit dem Roman «Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters» debütiert. Im Mittelpunkt steht hier Kapitelmans Reise mit dem Vater nach Israel, wohin die Familie ursprünglich hatte emigrieren wollen. Dmitrij Kapitelman hat in Leipzig Politikwissenschaft und Soziologie studiert und anschliessend die Journalistenschule in München besucht. Heute lebt er als Autor und Journalist in Berlin.