Die Trauerfeierlichkeiten für den im Straflager umgekommenen russischen Oppositionspolitiker zeigten den Widerstandsgeist der Zivilgesellschaft. Und dies, obwohl die Behörden alles versuchten, um den Abschied möglichst klein zu halten.
Als der schwarze Kastenwagen langsam wieder das Kirchengelände verlässt, rufen die in einer dichten Traube wartenden Trauernden «Nawalny!» und klatschen. Sie werfen die mitgebrachten Nelken und Rosen auf die wegfahrenden Autos. Sie stossen die Absperrgitter um, die eben noch ein Dutzend vermummte Nationalgardisten in ihrer stahlblauen Camouflage-Uniform abgesichert haben. Trauer und Frust mischen sich, viele weinen. Sie sind mitunter seit dem Morgen angestanden und haben es doch nicht geschafft, in der Kirche am offenen Sarg von Alexei Nawalny Abschied zu nehmen.
Die engste Familie fehlte
Böse darüber sei er nicht, sagt ein jüngerer Mann, der aus der Provinz extra nach Moskau gereist ist und ab neun Uhr da war. «Ich habe das für mich gemacht. Ich hätte mich nicht als Mensch gefühlt, wenn ich nicht gekommen wäre», sagt er. Dann fügt er an: Nein, die Hoffnung sei mit Nawalny nicht gestorben. Wenn die Dinge in der Gesellschaft reif seien, könne es explosionsartig zu Veränderungen kommen.
Waren es mehrere tausend oder nicht eher mehrere zehntausend, die am Freitag im Süden Moskaus von Russlands berühmtestem und wirkungsmächtigstem Oppositionspolitiker Abschied nehmen wollten? Die Schlange derer, die um die Mittagszeit an der Kirche der Gottesmutter-Ikone «Lindere mein Leid» im Moskauer Stadtteil Marjino, lange Zeit Nawalnys Wohnort, Schlange standen, wuchs in kurzer Zeit so schnell an, dass sie bald einmal um das Kirchengelände und den daran anschliessenden kleinen Park reichte – und dann auch darüber hinaus.
Die Trauernden entstammten allen Altersschichten, etwas, was Nawalnys Anhängerschaft immer ausgezeichnet hatte. Auch zahlreiche westliche Botschafter kamen, um ein Zeichen zu setzen. Abgesehen von den Eltern fehlte aber die engste Familie – Nawalnys Frau Julia, die Kinder Daria und Sachar, der Bruder Oleg. Sie können nicht nach Russland reisen.
Das Aufgebot an Sicherheitskräften war riesig. Dutzende von Polizeiwagen, Gefangenentransportern, Mannschaftswagen der Nationalgarde und städtischen Bussen, die für den Transport der Polizisten abgestellt waren, standen entlang der Strassen in diesem vor allem von spätsowjetischen Plattenbauten geprägten Stadtteil. Polizisten und Sondereinheiten standen da, als gelte es, eine Terrorgefahr abzuwenden. Rund um die Kirche wurde das mobile Internet praktisch zum Stillstand gebracht.
Tausende trotz Einschüchterung
Die Angst sitzt mittlerweile tief. Walentina, eine 75-jährige energische Frau, die mit ihrer Freundin gekommen ist, ist darüber selbst entsetzt. «Wie kann es sein, dass ich mich davor fürchte, mit Blumen in der Metro gesehen zu werden? Ich habe nur Kerzen mitgenommen», sagt sie entschuldigend. Sicherheitshalber sei sie schon eine U-Bahn-Station früher ausgestiegen, um die Lage zu beobachten. Ihre Bekannten wagten es nicht einmal, den Namen Nawalnys in den Mund zu nehmen, so sehr seien sie eingeschüchtert.
Beim Gedanken an Nawalny gerät sie ins Schwärmen. Einfach ein herausragender Mensch sei er gewesen, und im Unterschied zu Präsident Putin habe er nicht nur von Familie gesprochen, sondern ein beispielhaftes Familienleben voller Liebe gelebt. Nawalny habe selbst etwas geleistet und nicht nur darüber gesprochen. Die Führung wolle den Russen einreden, sie seien vom Westen bedroht. Dabei sei das Land völlig unterentwickelt. Sie fürchte, der Jugend in Russland gehe allmählich die Geduld aus. Dann will sie weiter, die Schlange ist noch länger geworden.
Die allermeisten haben am Ende keine Chance, Nawalnys Leichnam zu sehen. Stattdessen skandieren sie: «Danke, Alexei!», «Wir geben nicht auf», «Wir verzeihen nicht», ja sogar: «Kein Krieg» und «Putin ist ein Mörder». Still wird es, als der Glöckner zum Abschluss der Abdankung ein feines Glockenspiel aufführt.
Die Angst ist nicht unbegründet. Männer in dunklen Jacken, oft mit schwarzer Gesichtsmaske, mischen sich unters Volk und filmen. Sie filmen auch die Gesichter in dem langen Umzug, der sich nach dem Ende der Trauerfeier in der Kirche zum Borisowo-Friedhof, einem der ältesten Moskaus, bewegt. Anna, eine 43-jährige, auch im Westen ausgebildete Filmemacherin, ist, wie viele andere auch, direkt zum Friedhof gekommen. Ihre Kinder hat sie diesmal zu Hause gelassen. Anna ist eine altgediente Protestteilnehmerin. Besondere Hoffnung, dass sich in Russland bald etwas ändern könnte, hat sie nicht. Sie lernt jetzt Deutsch. Ihr Mann stammt aus einer russlanddeutschen Familie. Wenn alles klappt, werden sie nach Deutschland auswandern.
Am Friedhof sind es nochmals Tausende, die am Grab Blumen niederlegen wollen. Sie drängen sich auf dem engen Weg, sie steigen über dreckige Schneeberge und stapfen durch Schneematsch. Als Nawalnys Eltern langsam, Arm in Arm, zum Auto gehen, ruft die Menge einfach: «Danke!»
Druck der Behörden
Unter welchen Umständen die Trauerfeierlichkeiten für Nawalny würden stattfinden können, war bis ganz zuletzt unsicher gewesen. Die russischen Behörden unternahmen alles Mögliche, um das öffentliche Gedenken zu verhindern. Das hatte schon direkt nach der Mitteilung von Nawalnys Tod im Straflager IK-3 in der Siedlung Charp am Polarkreis begonnen, als Nawalnys Mutter Ljudmila Nawalnaja in Begleitung eines Anwalts den Leichnam ihres Sohnes abholen wollte. Eine Woche lang wurde sie mit immer neuen Forderungen und Erpressungsversuchen hingehalten; zweimal nahm sie eine Videobotschaft auf, in der sie die Übergabe des Leichnams verlangte und über die Druckversuche der Ermittlungsbehörden berichtete.
Nach ihren Angaben und denen von Nawalnys Team im Exil wollte der Staat der Familie vorschreiben, wo und unter welchen Umständen der Verstorbene beerdigt werden solle. Ljudmila Nawalnaja weigerte sich beharrlich, auf eine öffentliche Trauerfeier zu verzichten und in eine schnörkellose Beerdigung ohne jede Zeremonie auf Moskaus grösstem Friedhof einzuwilligen.
Aber auch als sie den Leichnam am neunten Tag nach dem Tod doch bekam, wurden der Familie und den Mitstreitern ständig Steine in den Weg gelegt. Eine Halle, wo sich alle Interessierten am offenen Sarg von Nawalny hätten verabschieden können, wie es in Russland üblich ist, fand sich trotz hartnäckiger Suche nicht. Offenbar sollte der Abschied kürzer ausfallen aus Sicht der Behörden.
Dass Alexei Nawalny, dem Intimfeind des Kremls, auch auf seinem letzten Weg nur Hindernisse bereitet wurden, erzürnte selbst Russen, die nie besondere Sympathie für ihn gehegt hatten. Die Schamlosigkeit, mit der das Regime Nawalny über die von ihm gesteuerte Strafjustiz und den Strafvollzug mit absurden Prozessen und Torturen im Straflager in den Tod trieb, zeigt sich an dieser Unerbittlichkeit auch in moralischer Verkommenheit. Die vorgeblichen Werte, die Präsident Putin dauernd im Mund führt, scheinen selbst für die ärgsten politischen Widersacher nicht zu gelten.
Öffentliche Anteilnahme wird behindert
Ob tatsächlich aus Furcht vor Kontrollverlust oder eher aus moralisch niedrigen Beweggründen: Der Kreml fürchtete offenbar Trauerumzüge, wie sie 1989 beim Tod des Nobelpreisträgers und sowjetischen Dissidenten Andrei Sacharow oder 2015 nach der Ermordung des liberalen Oppositionspolitikers Boris Nemzow Zehntausende auf die Strassen brachten. Selbst das spontane öffentliche Trauern um Nawalny an den Denkmälern für die Opfer politischer Repression oder improvisiert an zufälligen Orten im ganzen Land sehen die Behörden offenkundig als eine Art Sabotage am Staat. Auch am Freitag kam es am Rand der Trauerfeiern zu Festnahmen.
Die trotz staatlicher Repression grosse Anteilnahme am Tod Nawalnys und die Tausende, die am Freitag auch bei Einbruch der Dunkelheit noch zum Friedhof strömten, dürften den Kreml überrascht haben. Es ist das einzige derzeit mögliche Zeichen von Widerstandsgeist einer Zivilgesellschaft, die längst nicht so konsolidiert hinter dem Regime steht, wie das Putin und seine Propagandisten gerne behaupten. Die Mehrheit mag Nawalnys Tod gegenüber gleichgültig sein oder ihren Hass sogar über seinen Tod hinaus pflegen. Am Freitag zeigte das «andere Russland», dass es noch nicht ganz marginalisiert ist. Das ist im Innern und nach aussen in für viele düsterer Zeit wichtig zu wissen.