«The Commandant’s Shadow» zeigt NS-Nachfahren, die gerne verdrängen möchten. Aber spätestens bei Kaffee und Kuchen mit der jüdischen Cellistin von Auschwitz ist es vorbei damit.
Der schlimmste Massenmörder in der Geschichte der Menschheit ist Hitler, und dann kommt Opa. Kai Höss ist der Enkel von Rudolf, dem Lagerkommandanten von Auschwitz. Als Leiter der Mordfabrik war Rudolf Höss für den Tod von über einer Million Menschen, die meisten Juden, verantwortlich.
Kai Höss, Anfang sechzig, ist Pfarrer, er weiss, was im Buch Exodus steht. Dass nämlich Gott «die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied» heimsuchen wird. Die monströse Nazi-Vergangenheit seiner Familie verfolgt Kai Höss.
Sie verfolgt ihn mehr als seinen Vater, Hans Jürgen Höss, Ende achtzig. Dieser hält «Vati» in gar nicht allzu schlechter Erinnerung. Hans Jürgen war ein kleines Kind während des Kriegs, die Familie lebte in Auschwitz, sozusagen eine Hausnummer neben dem KZ.
Hössens machten es sich schön in der herrschaftlichen Villa mit Garten. Gleichzeitig wurde auf der anderen Seite der Mauer mit gutdeutschem Fleiss an der Vernichtung der Juden gearbeitet.
Aus dieser Perversion bezog unlängst schon der Oscar-prämierte Spielfilm «The Zone of Interest» seine abgründige, unheimliche Faszination. «The Commandant’s Shadow» liefert nun das dokumentarische Pendant dazu. Hans Jürgen Höss sagt: «Ich hatte eine wirklich schöne und idyllische Kindheit in Auschwitz.»
Ascheregen im Garten
Als alter Mann, zurück an Ort und Stelle, schaut der Höss-Sohn durch das Fenster im ehemaligen Kinderzimmer und erinnert sich an die Aussicht aufs Krematorium. Was im KZ vor sich ging, verstand der Vier- oder Fünfjährige nicht. Nur scheint er es auch acht Jahrzehnte später noch immer nicht ganz zu verstehen. Rauch habe er damals nie gesehen, sagt er. Dass es Asche in den Garten regnete, wie es selbst die Eltern später in Texten beschrieben haben – nein, das könne nicht sein.
Hans Jürgen Höss ringt sichtlich mit sich. Er ist kein Holocaustleugner. Er weiss, was in Auschwitz war. Aber so ganz wahrhaben will er es dann doch nicht. Weil: Vater war doch ein Guter! Und die Mutter hat garantiert von nichts gewusst, da ist er sich sicher.
Seine Schwester, die er Püppi nennt, geht noch weiter. Das ehemalige Fotomodell, das im hohen Alter in Amerika lebt, lässt nichts auf die Eltern kommen. Der Vater sei «reingeraten und nicht mehr rausgekommen». Aber er habe danach als Einziger offen gesagt, «was dort geschehen ist». Für die alte Frau, die nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten zu sein scheint, war Rudolf Höss «ein guter Mensch».
Die Schwester lügt sich etwas vor; Hans Jürgen verdrängt, so gut es geht; der Sohn Kai konfrontiert die Familie, aber auch sich selbst beharrlich mit den Fakten. Die Dokumentation «The Commandant’s Shadow» schildert die mal schlüssigeren, mal abstruseren Versuche der Vergangenheitsbewältigung von Menschen mit Nazi-Hintergrund. Aber das ist nur der halbe Film.
Die Cellistin von Auschwitz
Denn der Ansatz der Regisseurin Daniela Völker besteht darin, dass sie den Nachfahren der Täter die Seite der Opfer gegenüberstellt: konkret die Jüdin Anita Lasker-Wallfisch. Sie überlebte das KZ, weil sie von den Nazis als Cellistin im Lagerorchester gebraucht wurde.
Nach dem Krieg legte sich Anita Lasker-Wallfisch einen emotionalen Panzer zu. Völlig abgebrüht und mit einem stoischen Witz geht die Frau durchs Leben. Hingegen hat ihre Tochter nie recht den Tritt gefunden. Maya Lasker-Wallfisch, Mitte sechzig, verkörpert die zweite Generation der Überlebenden, die glauben, die Traumata der davongekommenen Eltern geerbt zu haben. Aber das Unbehagen, das auf den Nachgeborenen lastet, ist schwer fassbar. Anita Lasker-Wallfisch hat die Hölle gesehen, für Befindlichkeiten der Tochter hat sie keine Geduld. «Traumatisiert? Vergiss es, leb dein Leben.»
In «The Commandant’s Shadow», der dieses Wochenende am jüdischen Filmfestival Yesh! in Zürich gezeigt wird, erzählt Daniela Völker vom Versuch, eine Sprache zu finden: bei den Nachfahren von Nazis genauso wie aufseiten jüdischer Opfer.
Gipfeltreffen im Wohnzimmer
Der titelgebende, sprichwörtliche Schatten des Kommandanten fällt weit. Aber langsam gelingen Schritte aus dem Dunkel heraus, wie Völker in ihrer klugen Montage zu veranschaulichen vermag: Sie zeigt, wie die Protagonisten einen Prozess durchmachen. Allen voran Hans Jürgen Höss: Er öffnet sich dem Gedanken, dass Vati vielleicht doch nicht nur ein «Aktenschieber» gewesen sei, der sich mit dem Massenmord «persönlich» gar nicht befasst habe.
Und zum Showdown wohnt der Film dann einem unwahrscheinlichen Gipfeltreffen bei: In ihrem Versuch, mehr über Traumata auch auf Täterseite zu verstehen, arrangiert Maja Lasker-Wallfisch eine Begegnung zwischen Hans Jürgen Höss und ihrer eigenen Mutter: «Kaffee und Kuchen mit dem Sohn von Höss», schlägt sie vor. «Wieso nicht», antwortet Anita Lasker-Wallfisch. «Wenn er Kuchen mitbringt.»
So kommt es, dass die jüdische Cellistin von Auschwitz den Sohn des Massenmörders bei sich in der Stube stehen hat. Allzu viel wird man sich zwar nicht zu sagen haben, in der Banalität liegt aber auch eine Erkenntnis, wie schon Hannah Arendt wusste. Ein «historischer Moment», meint schalkhaft Anita Lasker-Wallfisch, während sie von Kai Höss einen etwas gequetscht aussehenden altdeutschen Apfelkuchen überreicht bekommt.
«The Commandant’s Shadow» wird Samstag und Sonntag am jüdischen Filmfestival Yesh! in Anwesenheit von Daniela Völker gezeigt.