Immer häufiger bedrohen Jugendliche andere über Instagram, Tiktok, Snapchat. Das lernen Zürcher Jugendliche durch ein ungewöhnliches Theaterstück. Aufführungsort: Schulzimmer im ganzen Kanton.
Du hässliche Schlampe
Stirb doch.
ich brech dir alle knochen
Im Spätsommer 2017 blinken solche Nachrichten auf dem Handy der Oberstufenschülerin Céline Pfister aus Spreitenbach im Aargau auf.
ich mach dich fertig, du dreckige Bitch
oh mädchen wart nur ab
Es sind Kommentare auf Instagram, Nachrichten auf Whatsapp, Videos auf Snapchat. Die Drohungen sind das Letzte, was sie sieht, bevor sie einschläft. Und das Erste, wenn sie morgens aufwacht.
Angefangen hat alles, als sich Céline verliebt hat. Das war im Frühling 2017, er war ein Junge mit zweifelhaftem Ruf. Ein «Fuckboy», erzählte man sich an seiner Schule. Einer, der nur Sex wolle, ohne Rücksicht auf Gefühle. Doch Céline ignoriert die Warnungen. Sie schickt ihm Fotos. Keine erotischen, aber intime. Er schickt sie weiter, trotz dem Versprechen, das nicht zu tun. Die Fotos landen auf Snapchat, Instagram, Whatsapp. Überall.
Was danach folgt, ist der Schweiz traurig im Gedächtnis geblieben: Céline wird so lange gemobbt, bis sie es nicht mehr aushält. Am 28. August 2017 nimmt sie sich das Leben. Sie wurde 13 Jahre alt.
«#Byebitch» soll aufrütteln
Sieben Jahre nach Célines Tod, ein Freitag im November. Ein Schauspieler mit einer weissen Maske hält vor einer Schulklasse an der Kantonsschule Zürcher Oberland in Wetzikon mehrere A4-Blätter in die Höhe. Darauf sind die Nachrichten an Céline abgedruckt. Eine Schauspielerin macht mit den Schülern und Schülerinnen Selfies und tut, als würde sie diese auf Instagram hochladen. So, wie es Céline einst tat.
Die Szene ist Teil des Theaterstücks «#Byebitch», das Célines Geschichte nacherzählt. Die Schauspieler arbeiten für das Schauspielhaus Zürich, aufgeführt wird das Stück aber in erster Linie in Schulzimmern. «#Byebitch» soll Jugendlichen begreiflich machen, dass eine Geschichte wie jene von Céline auch in ihrem Umfeld vorkommen könnte. An ihrer Schule, in ihrer Klasse. In ihrem Klassenzimmer.
Denn «#Byebitch» erzählt nicht nur Célines Geschichte. Laut der James-Studie von 2024 geben ein Drittel der Jungen und Mädchen an, dass sie schon einmal im Internet beleidigt wurden. Ein Drittel der Jugendlichen wurde online schon einmal mit sexuellen Absichten angesprochen. Und die Zahlen steigen laufend. Je mehr Jugendliche Handys benutzen, desto grösser wird das Risiko für Cybermobbing.
Offlinemobbing wird zu Onlinemobbing
Cybermobbing lässt sich dabei nicht einfach von analogem Mobbing trennen. Oft werden Kinder und Jugendliche offline gemobbt, bevor sie auch im Internet bedroht und beleidigt werden. Christelle Schläpfer, psychosoziale Beraterin und Expertin für Mobbing, sagt: «Das digitale gibt dem analogen Mobbing eine zusätzliche Dimension.» Das Mobbing werde unablässig, es gebe keinen Feierabend, keine Ferien. Das Publikum werde unüberschaubar gross. «Digital können Mobber innert kürzester Zeit eine Katastrophe anrichten.»
Während der Vorstellung von «#Byebitch» werden Videos von Jugendlichen eingeblendet, die Cybermobbing erlebt haben.
«Er hat ihr gedroht, dass er sie erschiessen würde», sagt ein Jugendlicher im Video. «Und dann hat er gesagt: Weil du ein Mädchen bist, bist du schwach›»
«. . .Jungs haben mich in einem Gruppenchat beleidigt. Sie haben mir das N-Wort gesagt, und mir ging es richtig schlecht.»
«Ich habe mitbekommen, wie Cybermobbing eine Persönlichkeit brechen kann. Dann ist es sehr schwierig, die wieder aufzubauen.»
Die Klasse U2d wird ganz ruhig.
Studien belegen, dass Hasskommentare online ebenso verletzen wie offline. Laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) werden vor allem Mädchen wütend, traurig oder ängstlich, wenn sie Hasskommentare lesen.
Halten die Beleidigungen, Beschimpfungen, Bedrohungen längere Zeit an, sind die Folgen in vielen Fällen gravierend. Viele Mobbingopfer entwickeln Angststörungen, Depressionen, chronischen Stress. Das Selbstwertgefühl leidet, es folgen schlechte Noten, soziale Isolation, Konzentrationsprobleme.
Ausgrenzung kann das Motivationssystem beeinträchtigen. Jene Teile des Gehirns, die für Gedächtnis und Lernen zuständig sind, werden in Mitleidenschaft gezogen. Christelle Schläpfer sagt: «Mobbing kann Spuren hinterlassen wie andere Traumata.»
Manche Mobbingopfer entwickeln posttraumatische Belastungsstörungen. Wie Soldaten, die aus einem Krieg heimkehren.
Selbst als Erwachsene sind ehemalige Mobbingopfer manchmal noch versehrt. Studien zeigen, dass sie öfter an Schlafstörungen, Depressionen, Herzinfarkten leiden. Und dass sie eher arbeitslos sind, einen tieferen Bildungsstand und instabilere Beziehungen haben als ihre Altersgenossen. Und: Im Vergleich zur Durchschnittsgesellschaft nehmen sie sich drei Mal so häufig das Leben.
So wie Céline.
Die Eltern tragen seither Schwarz
Nach ihrem Tod wurde Céline von ihrer Mutter Nadya gefunden. Sie lag im Treppenhaus vor der Wohnung der Familie, als die Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Das war um halb sechs Uhr abends. Nadya Pfisters Armbanduhr zeigt noch heute diese Zeit an. «Weil seither die Zeit stillsteht.»
Nach Célines Suizid hat sich Nadya Pfister zusammen mit ihrem Mann Candid die Aufklärung über Cybermobbing zur Lebensaufgabe gemacht. Die beiden reisen durch die ganze Schweiz, halten Vorträge, geben Interviews. Und sie stossen auf grosses Interesse. Regelmässig müssen sie Anfragen ablehnen. Auch in «#Byebitch» haben die beiden mitgewirkt.
Neben ihrer Aufklärungsarbeit kämpfen die beiden für politische Veränderung: Sie wollen, dass ein Straftatbestand Cybermobbing eingeführt wird. Und sie fordern, dass Anbieter sozialer Netzwerke stärker reguliert werden.
Denn in der Schweiz gibt es für soziale Netzwerke noch keine Gesetze, die Jugendliche schützen. Andere Länder planen, Jugendlichen bis zu einem bestimmten Alter soziale Netzwerke zu verbieten. Darunter etwa Australien, Spanien oder Norwegen. Nadya und Candid Pfister wollen, dass auch die Schweiz ein solches Gesetz einführt. Nadya Pfister sagt: «Auch wenn die Jugendlichen wahrscheinlich trotzdem irgendwie auf diese Plattformen kommen würden: Das Zeichen, das man mit einem Verbot setzen würde, wäre wichtig.»
Der Straftatbestand Cybermobbing, den die Pfisters fordern, hat ein Gesetz in Österreich zum Vorbild. Dort ist Cybermobbing als Straftatbestand definiert, der von Amtes wegen verfolgt werden muss.
In der Schweiz wird Cybermobbing heute erst verfolgt, wenn bei der Polizei Anzeige erstattet wird. Und auch dann wird nicht wegen Cybermobbing ermittelt, sondern beispielsweise wegen Drohung oder Verleumdung.
Das war auch bei den beiden Jugendlichen so, die Céline gemobbt haben. Sie wurden wegen versuchter Drohung, Nötigung sowie Beschimpfung schuldig gesprochen und jeweils zu wenigen Tagen gemeinnütziger Arbeit verurteilt. Auf Tiktok, Instagram und Snapchat konnten sie danach weiter aktiv sein. Nadya Pfister sagt: «So ein mildes Urteil sendet doch das Signal aus: Cybermobbing ist nicht so schlimm.»
Die Pfisters könnten ihr Ziel, einen neuen Straftatbestand einzuführen, erreichen: Auf Betreiben der beiden hat die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter eine parlamentarische Initiative eingereicht, die einen solchen Straftatbestand fordert. National- und Ständerat unterstützen das Anliegen, momentan debattiert die Rechtskommission des Nationalrats darüber.
Gute Prävention stellt die Zuschauer ins Zentrum
Doch ein Straftatbestand richtet sich nur gegen Jugendliche, die selber aktiv gemobbt haben. Jene, die zuschauen, betrifft er nicht. Dabei könnten gerade sie Mobbing stoppen.
Im Theaterstück «#Byebitch» steht deshalb das Umfeld des Opfers im Zentrum. «Sinnvolle Prävention stärkt die Zivilcourage des Umfelds», sagt Christelle Schläpfer. «Also derer, die danebenstehen und schweigen. Damit stattdessen jemand einschreitet und sagt: Das geht so nicht.»
Geschichten, die das Opfer ins Zentrum stellen, führen ausserdem oft zu einer Täter-Opfer-Umkehr: Mindestens implizit wird das Opfer dafür verantwortlich gemacht, dass es gemobbt wird. Dabei, sagt Christelle Schläpfer, sei das Opfer nie für das Mobbing verantwortlich. Egal, wie es sich verhalte. «Einer Jugendlichen zu sagen: ‹Verschick halt keine Fotos›, ist, als würde man einem Vergewaltigungsopfer sagen: ‹Trag halt keinen kurzen Rock.›»
Auch Vorträge von Lehrpersonen über Cybermobbing seien die falsche Herangehensweise, um Cybermobbing zu verhindern. «Das Problem ist, dass die Jugendlichen nicht spüren, ab wann ein Kommentar einfach nicht mehr lustig ist», sagt Christelle Schläpfer. Um Mobbing zu verhindern, müssten die Jugendlichen emotional wahrnehmen, dass ihre Nachrichten Konsequenzen hätten. Christelle Schläpfer sagt: «Wirkungsvolle Mobbing-Prävention muss die Jugendlichen berühren.»
Diese Dinge soll «#Byebitch» erreichen. 45 Klassen sind bereits für eine Aufführung angemeldet, weitere 250 stehen auf der Warteliste.
«Ganz viel Gfühl im Buuch»
Im Schulzimmer der U2d an der Kantonsschule in Wetzikon ist die Vorstellung zu Ende. Die Schüler machen eine kurze Pause, dann lassen sie das Stück gemeinsam Revue passieren. «Ich hatte so viele Gefühle im Bauch», sagt der 14-jährige Laurent im Gespräch mit der NZZ. Nora, ebenfalls 14 Jahre alt, sagt: «Ich hätte weinen können. Es ist so schlimm, zu was Menschen fähig sind.»
Die Schülerinnen und Schüler der Klasse U2d haben Célines Fall bereits vor der Aufführung von «#Byebitch» in der Klasse besprochen. Laurent sagt: «Ich will jetzt mehr darauf achten, was ich sage und wie andere sich dabei fühlen.» Remo fügt an: «Es ist wichtig, über Mobbing zu reden. Weil es Narben hinterlässt, die für immer bleiben.» Und Emily sagt: «Es ist wichtig, sich zu überlegen: Bin ich auch so ein Mensch? Habe ich schon einmal so etwas gemacht?»
Nach dem Stück unterhalten sich die Schülerinnen und Schüler 20 Minuten lang über das Gesehene. Angeleitet werden sie dabei von den Schauspielern des Stücks. «Afterglow» heisst diese Runde. Sie sorgt dafür, dass die Jugendlichen nicht alleine bleiben mit dem, was sie gesehen haben. Und besprechen können, was sie aufwühlt. «Man konnte sich ausleben, direkt aus dem Herz reden», sagt Jorel. «Das tat gut.»
Genau deswegen wird «#Byebitch» im Klassenzimmer aufgeführt: Damit das Stück die Jugendlichen berührt, sie beschäftigt. Sie sollen begreifen, dass Célines Geschichte auch in ihrem Umfeld passieren könnte. Dass sie verantwortlich sind. Auch – oder: gerade eben – als Zuschauer.
Das Theaterstück «#Byebitch» wird regelmässig in Schulzimmern aufgeführt. Am 24., 26. und 27. Januar finden öffentlich zugängliche Vorstellungen im Schauspielhaus Zürich statt.