Operation «Turnaround». Der Freisinn verabschiedet sich vom alten Selbstverständnis als Volkspartei.
Was der FDP vom vergangenen Wochenende bleibt, ist eine Schadensbilanz: In der Abstimmung über eine 13. AHV-Rente ging das Selbstverständnis vom liberalen Sonderfall verloren, in Uri, Schwyz und St. Gallen waren es kantonale Wahlen. Verluste überall. «Die Wählerin und der Wähler haben es gerne einfach», berichtet Urs Rhyner, Präsident der FDP in Schwyz, «aber unsere Botschaften sind nicht immer so einfach.» Für andere Parteien sei alles ganz klar – «wir brauchen zwei, drei Sätze mehr, aber dafür fehlt vielen schon die Geduld». Und dann kam am Sonntagabend aus Glarus auch noch die Nachricht, dass die FDP einen ihrer Regierungsratssitze verliert.
Hört das denn nie auf? In den eidgenössischen Wahlen im vergangenen Herbst verlor man Sitze im National- und im Ständerat. Im November sagte Thierry Burkart, Präsident der FDP, im «Tages-Anzeiger»: «Wir haben heute ein zu grosses Eigenleben der Kantonalparteien. Ich erfahre oft erst im Nachhinein von wichtigen Entscheiden.» Es war, wie es schien, ein kathartischer Moment. Wenn seine Partei weiter verliere, erklärte Burkart, könne sie den zweiten Bundesratssitz nicht mehr lange halten.
Im Innern der FDP fürchtet man sich davor, eine CVP zu werden: programmatisch und elektoral im Niedergang begriffen; so stetig, aber langsam, dass sich die Mitglieder gut daran gewöhnen.
Bevor es so weit kommt, will sich die FDP neu erfinden, dieses Mal wirklich. In Arbeitsgruppen und Retraiten bespricht man das «Verliererimage» und stellt sich ganz grundsätzliche Fragen: Wohin soll es gehen und mit wem? Der Claim der diskreten Operation: «FDP Turnaround 2027». Thierry Burkart hat sich erst «nach reiflicher Überlegung» für eine weitere Amtsperiode entschieden, wie er in einer internen Nachricht schreibt. Vor wenigen Tagen hat er dafür seinen Generalsekretär ausgewechselt: Jonas Projer, ein früherer Fernsehmoderator, soll im April gewählt werden – aber er sei schon jetzt «sehr aktiv», heisst es aus der Partei, wo die Personalie bereits Unruhe produziert.
Zurzeit gebe es ein Vakuum, wird allerorts gesagt: Man weiss, dass die Partei eine andere werden muss. Aber man weiss noch nicht, wie das gelingen soll.
Wo anfangen?
Staatstragend – eine kurze Geschichte der FDP
Noch im vergangenen September erwärmte sich die FDP in einer unterkühlten Eishalle in Freiburg an der eigenen Geschichte. Die alten Liberalen, die Staatsgründer von 1848, wurden in die Gegenwart geholt. Diesen Staat tragen – «das können nur wir», erklärte das Spitzenpersonal in verschiedenen Stimmlagen. Der freisinnige Historiker Olivier Meuwly schrieb einmal, der Freisinn verstehe sich als geometrisches Mittel: «Bei ihm allein laufen die Strömungen der Gesellschaft zusammen; nur er vermag sie alle in ihrer Komplexität zu ‹behandeln›.»
Im Ausland fristen liberale Parteien ein Nischendasein. In der Schweiz war der Freisinn lange eine Volkspartei, gewählt von Bauern in der Waadt wie von Bankern in Zürich. Dieses alte Selbstverständnis wurde in Freiburg vielleicht letztmals zelebriert: «Der Liberalismus wird geliebt von den Menschen», erklärte Thierry Burkart, «auch wenn sie es manchmal gar nicht merken.» Als gewählt wurde, hatten viele Menschen den Liberalismus vergessen. Die FDP steht inzwischen bei einem Wähleranteil von 14,3 Prozent.
Im Maschinenraum der Partei verzweifeln sie an jenen Nationalräten, die noch immer glauben, sie müssten zu jedem Kompromiss bereit sein, auch wenn am Ende nur der Kompromiss einer Kompromissvariante herausschaut. Erschreckt hat man in der Fraktion festgestellt, dass der Bevölkerung laut Umfragen ziemlich egal ist, wer zu einer Lösung beiträgt – es wird gewählt, wer Probleme benennt. Es sei halt eine gut freisinnige Tradition, den Bundesrat wohlwollend zu begleiten. Wer trage die Institutionen dieses Staates denn sonst noch?
«Ich will das Wort ‹staatstragend› nicht mehr hören», sagt Matthias Müller, der Präsident der Jungfreisinnigen. «Wir sind es nicht und können es nicht mehr sein, dafür sind wir längst viel zu klein.» Müller ist zu jung, um die Partei als jene Machtverwalterin gekannt zu haben, die sie einmal war. Er sagt: «Wir müssen konfrontativer werden, wegkommen von den Phrasen und übergehen in den liberalen, emotionalen Kampfmodus. Wir dürfen nicht daran denken, dass wir vielleicht nicht in den Verwaltungsrat X kommen, wenn wir das Wort Y brauchen.» Mit anderen Worten: Die FDP soll von einem staatstragenden Volksverein zu einer normalen Partei werden.
Auf der Suche nach der Niederlage
Am Sonntag fuhr Matthias Müller nach Bern, um als Verlierer in alle Mikrofone zu reden. Er hatte fest mit der Niederlage gerechnet, die Renteninitiative der Jungfreisinnigen war kein populäres Anliegen. Als er in Bern eintraf, «hing bei unseren Leuten der Kiefer tief unten»: «Ich sagte: ‹Hey, Krone richten, weiter geht’s!›» Er weiss, dass die Juso in der gleichen Situation erklärt hätten, man sei stolz, eine wichtige Debatte angestossen zu haben. «Wir stürzen stattdessen in eine tagelange Existenzkrise.»
Der alte Freisinn war so mächtig, dass er den Wert einer Niederlage in der Politik nicht kannte: zur Profilierung nach aussen, zur inhaltlichen Klärung nach innen. Eine neue FDP müsste Niederlagen mindestens in Kauf nehmen. Intern haben die Solothurner mit einer Initiative grossen Eindruck gemacht, die die kantonale Verwaltung verkleinern wollte. Solche Initiativen sollen auch in anderen Kantonen lanciert werden – auch wenn sie nicht sofort mehrheitsfähig sind.
In unzähligen Gesprächen wird betont: Man müsse initiativer werden, früher Positionen beziehen, und man dürfe die eigene Fahne «nicht beim kleinsten Windli» wieder einziehen. Man habe schlicht nie gelernt, sich in den Gegenwind zu stellen. Noch immer wirkt es teilweise wie in frühen Vorzeiten, in denen die FDP so mächtig war, dass sie nur einen Gegner hatte: sich selbst. «Es wäre schon gut, wenn die lauteste Kritik jeweils nicht von den eigenen Kollegen käme», sagt ein Nationalrat.
Vom Ende der Flügel – wobei . . .
Noch immer fliesst viel politische Energie in innerparteiliche Abgrenzungsdebatten. Schon der alte Freisinn hatte mehrere Flügel, aber so viel Gewicht, dass er dennoch ruhig flog. Die neue FDP hat immer noch mehrere Flügel, aber viel weniger Gewicht, deshalb leidet manchmal die Stabilität.
Thierry Burkart hat viel unternommen, um die Partei in seinem Sinn zu disziplinieren. Als er Präsident wurde, lancierte er eine Diskussion über «Kernkraftwerke der neuen Generation», die zuzulassen seien. An einem Parteitag (und diese Woche im Ständerat) setzte er seine Position durch. In den Fragen, die der Ukraine-Krieg mit sich brachte, positionierte er sich und seine Partei schnell und bestimmt. Burkart sagt, eigentlich sei es wunderbar, dass der Freisinn aus den Regionen heraus gewachsen sei. «Aber wir brauchen jetzt in den wichtigen Themen ein einheitliches Auftreten.» In der Fraktion im Bundeshaus registriert er eine zunehmende Disziplin. «Wir haben weniger Probleme mit Leuten, die sich zur Profilierung lautstark gegen die Partei stellen.» Sein Ideal wären vertiefte interne Auseinandersetzungen und Geschlossenheit gegen aussen. Wer unbesprochen vorprescht, muss damit rechnen, dass er von Burkart gemassregelt wird. Er liest alles, was über ihn geschrieben wird – und er kann empfindlich darauf reagieren. Im Generalsekretariat wird er dafür geschätzt, dass er (anders als früher Petra Gössi) schnell entscheidet.
Burkart kann aber noch so schnell sein – er weiss, dass ihn grundsätzliche Fragen immer wieder einholen. Wie hält es die FDP mit Europa und der Zuwanderung? Ein Mann der Wirtschaft, der im Herbst für den Nationalrat kandidierte, musste feststellen, dass er draussen in den Sektionen mit seinen Plädoyers für die Personenfreizügigkeit ständig auflief. Was priorisiert die FDP im Zweifel – ausnahmsweise mehr Geld für die Armee oder eine ausnahmslose Schuldenbremse? Über dieser Frage soll es zwischen Sicherheitspolitiker Burkart und Finanzministerin Karin Keller-Sutter, die teilweise mindestens einmal pro Woche telefonierten, zur Funkstille gekommen sein. Inzwischen habe sich das Verhältnis wieder normalisiert.
In der Partei gibt es ein grosses Bedürfnis, programmatische Fragen sehr grundsätzlich zu diskutieren. «Was ist eigentlich unser absolutes Steckenpferd?», fragt ein Parteikader am Telefon. «Manchmal bin ich mir selbst nicht sicher.» Der Berner Nationalrat Christian Wasserfallen formuliert es so: «Was ist die Kernaussage der FDP, was haben wir anzubieten? Am besten haben wir darauf eine klare, immergleiche Antwort.» Und am besten, sagt ein anderer, heisst die Antwort nicht nur «Eigenverantwortung».
Die Personalie Projer
In der Aufarbeitung der Wahlniederlage vom vergangenen Herbst gibt es vor allem drei Themen: Was ist unsere gemeinsame liberale Erzählung? Wie verkaufen wir sie? Und mit wem? Braucht es einen Podcast, wie das Co-Präsidium der SP einen hat? Fehlt es am Direktkontakt mit Wählerinnen und Wählern? Und wie können die eigenen Leute trainiert werden, dass sie im Fernsehen gegen die «pointierten Linken» nicht mit ihren «sachlichen Argumentationen untergehen», wie neulich ein Wähler einem Freisinnigen zurückgemeldet hat?
Hoffnungen werden in Jonas Projer gesetzt, den designierten Generalsekretär der FDP. Er war Moderator der «Arena», er kennt das kommunikative Geschäft – Erfahrungen im Maschinenraum einer Partei hat er aber keine. Manche sagen, seine Anstellung könnte «ein Coup für die Aussenwirkung» sein, andere fragen sich, wieso er zuletzt die «NZZ am Sonntag» und «Blick TV» schon nach kurzer Zeit wieder verliess. In der FDP pflegt man ein ähnlich unsentimentales Verhältnis zum eigenen Führungspersonal wie zu einer Aktie. Aus kantonalen Sektionen und aus der Fraktion kommt zudem Kritik an der Personalie Projer: Parteipräsident Burkart schaffe damit Tatsachen, bevor die Analyse über die Wahlniederlage abgeschlossen sei.
Burkart sagt: «Ich bin die Personalie Projer mit einem sehr hohen Mass an Diskretion angegangen, weil er als Person des öffentlichen Lebens schnell die Neugier auch der Medien hätte wecken können.» Deshalb habe er erst spät kommunizieren können.
Hat der Scheinwerfermensch Projer die Aufgabe, den Maschinenraumposten des Generalsekretärs neu zu interpretieren? Thierry Burkart verneint, der Generalsekretär sei kein Verkäufer nach aussen, er wirke im Hintergrund. «Jonas hat das Gespür für den politischen Betrieb», sagt Burkart, «und er kann uns kommunikativ verstärken.» Burkart will den freisinnigen Standpunkt «klar schärfen»: «Wir sind kompromissbereit, aber nicht um jeden Preis, denn wir wollen unsere Politik, so gut es geht, verteidigen.» Projer wird sein wichtigster Mann, und er freut sich auf ihn – die Wahl durch die Parteipräsidentenkonferenz vorbehalten.
Jonas Projer wird bereits in Sitzungen in Bern gesichtet, er trifft Leute und telefoniert sich durch die Partei. Er ist noch nicht gewählt, aber schon da: in dem Vakuum, das neu besetzt werden soll. So beginnt sich die FDP in diesen Tagen neu zu erfinden.