Was Hunderttausende junger Menschen erleben, ist das Gefühl der Befreiung aus Patronage und Isolation. Das ist ein Segen für das Land.
Woran misst man den Erfolg einer politischen Bewegung? In Serbien rührt seit drei Monaten ein von Studentinnen und Studenten angeführter Protest das Land auf. Es ist in einem Taumel wie nie seit den Demonstrationen gegen Milosevic vor einem Vierteljahrhundert.
Auslöser war ein Unglück. Der Einsturz eines Bahnhofdachs in Novi Sad, das im November 15 Menschen totschlug. Experten machen dafür Schlamperei am Bau und käufliche Behörden verantwortlich. Sie sind ein Symptom des Versagens von Institutionen, die nach der Pfeife der Regierungspartei und von Präsident Aleksandar Vucic tanzen.
Mit der Blockade von Amtshäusern, Verkehrsknoten und grossen Kundgebungen bringen die Proteste seither das öffentliche Leben periodisch zum Erliegen. Doch genau besehen stimmt das Gegenteil: Die Studenten schaffen mit ihrem Auftreten erstmals jene Öffentlichkeit, in der sie sich als verantwortliche Bürgerinnen und Bürger ihres Landes erkennen. Die Bewegung ist einfallsreich und humorvoll. Sie ist absolut gewaltfrei – und enorm ausdauernd.
Der Weg zum mündigen Bürger
Was wollen die Studenten? Die Forderungen sind alles andere als revolutionär. Sie wollen, dass die verantwortlichen Institutionen ihre Arbeit tun: Die Polizei soll Sachverhalte feststellen, die Untersuchungsrichter sollen untersuchen, die Richter richten. Und zwar nach dem Buchstaben des Gesetzes und keiner politischen Macht verpflichtet. Die Forderung ist gleichzeitig hoch brisant. Denn es ist klar, dass es diese geforderte Gewaltenteilung in dem personalisierten und autoritären System Vucic nicht geben kann.
Viele Beobachter zollen der Entschlossenheit der Studenten (die von Hunderttausenden Berufsleuten, Eltern, Professoren und Sympathisanten unterstützt werden) Respekt. Immer öfter mischt sich in das Lob aber auch Skepsis. Wie denn soll Vucics Macht gebrochen werden? Mit einem Putsch der Sicherheitskräfte? Unmöglich. Durch Wahlen? Unwahrscheinlich, solange Vucic alles kontrolliert.
Die Skeptiker übersehen etwas. Diese Bewegung ist bereits jetzt ein grosser Erfolg. Sie politisiert eine ganze Generation von jungen Menschen. Es ist eine Generation, die als passiv und apolitisch galt. Ihre grösste Ambition schien die Emigration nach «Europa» zu sein. Zwar hat diese Bewegung das System noch nicht verändert, die Bewegten aber schon: Sie haben ihre Angst verloren, lernen in Debatten ihre Meinung zu schärfen und dank Organisation konkrete Ziele zu erreichen. Der Protest ist eine Schule der Demokratie. Er macht aus seinen Teilnehmern Bürgerinnen und Bürger.
Europa fehlt, ohne zu fehlen
Was auffällt im Wald der Fahnen und Transparente, die durch die Städte ziehen: Nirgends, aber wirklich nirgends sind die Sterne der Europäischen Union zu sehen. Das politische Europa ist abwesend. Welch Unterschied zu den Bürgerprotesten in Georgien, in denen das EU-Gold-Blau überall ist!
Anders als die Georgier erwartet die serbische Jugend nichts von der EU. Den Reden von der «europäischen Perspektive» des Landes hört seit Jahren niemand mehr zu. Für das Emanzipationsprojekt der jungen Serbinnen und Serben spielt die selbsternannte Wertegemeinschaft schlicht keine Rolle.
Und wo die EU eine Rolle im Land spielt, dort steht sie auf der Seite von Vucic: Sie unterstützt sein Projekt eines Lithiumbergwerks, von dem die Mehrheit der Bürger glaubt, dass es die Umwelt schwer schädigt. Und sie erhebt kaum Einspruch gegen Vucics Autoritarismus, solange er verlässlich Munition in die Ukraine schickt.
Die Geopolitik steht also nicht auf der Seite der serbischen Demokratie. Doch das ficht die Studenten nicht an. Denn die Emanzipation von dem herrschenden Patronagesystem ist für Zehntausende ein individueller Akt der Befreiung. Kollektiv ist es die Investition in eine bessere Zukunft des Landes.