Chilenische Kawésqar besuchten vergangenes Jahr die Stadt. Ein bewegender Film zeigt nun die Geschichte dieser Begegnung.
Die alte Frau reisst grünes Schilfgras aus dem Boden und weint. Sie sagt: «Ich wusste nie, wie das geht, wie man das Schilf richtig ausreissen und flechten kann. Ich wollte es nicht wissen. Aber meine Mutter zeigte es mir trotzdem. Dann wurde sie krank, musste ins Spital. Da begann ich, allein zum Sammeln zu gehen. Ich merkte: Wenn es wie Öl durch meine Hand fliesst, dann ist das Schilf bereit. Ich spürte es hier, in meinem Herzen. Ich begann zu flechten, und als meine Mutter starb, sagte sie mir: Tochter, knüpf weiter. Lass das Schilf nicht trocken werden.»
Schilfgras zu flechten, sagt eine andere Frau, sei wie die eigene Geschichte zu erzählen. «Wenn du flichtst, dann kommt die Geschichte hoch, sie scheint in den Himmel zu steigen», sagt sie und knetet das knirschende Gras in ihren Händen.
Dann sagt sie: «Ich bin stolz, dass dieses Schilf auch nach Zürich gereist ist, in die Schweiz.»
Die zwei Frauen – María Eugenia Guenumán und Amil Caro Pérez – sind Angehörige der chilenischen Kawésqar, einer indigenen Gemeinschaft aus Patagonien. Und die Geschichte, die sie, ihr Schilfgras webend, gerade neu erzählen, ist eng mit jener der Stadt Zürich verbunden.
Ausgestellt wie Tiere
1881 wurden elf Kawésqar an Chiles Südspitze aufgegriffen und von einem deutschen Kapitän nach Europa gebracht. Sie wurden eingesperrt, ausgezogen, von Wissenschaftern vermessen und wie Tiere ausgestellt. In Paris, Berlin, München schauten sich Hunderttausende die Völkerschau mit den «wilden Feuerländern» an.
Die letzte Station des wandernden Menschenzoos: das Gasthaus «Plattenhof» in Zürich.
Krank, traurig und weit von ihrer Heimat entfernt starben fünf der Ausgestellten. Ihre echten Namen sind nicht bekannt, nur jene, die ihnen ihre Peiniger gaben. Ihre Überreste landeten in Schachteln verstreut in einem Keller der Universität Zürich. Erst 2010 wurden sie zurück nach Chile gebracht und dort bestattet.
Auf der Spur dieser leidvollen Geschichte reiste vergangenen Sommer eine Gruppe Kawésqar nach Zürich. Im Völkerkundemuseum der Universität zeigten sie Geschichte, Gegenstände und Gegenwart ihrer Kultur. In Workshops lernten Zürcher Kinder ihre Sprache. An grossen Tischen liessen sich Rentnerinnen das Schilfgrasflechten beibringen.
«Nie», sagt Pérez, «hätte ich gedacht, dass man sich hier so für uns interessiert.»
«Das Leid der Vergangenheit», ergänzt ihre Kollegin Carolina Quintul, «können wir nicht vergessen. Es wird immer als Erinnerung da sein.» Aber es sei nun an den jungen Generationen, die Kultur und ihre Geschichte auf positive Art weiterzutragen.
So wie das in Zürich geschah, wo nicht Schuld, sondern die Verwandlung einer gewaltsamen in eine gemeinsame Geschichte im Zentrum stand.
Laut der Direktorin Mareile Flitsch hatte das Völkerkundemuseum in ihrer Zeit nie so viele Besucher wie im Sommer, als die Kawésqar kamen. «Diese Begegnung, sie hat mich geprägt», sagt sie in «Ko Aswál: Voces de un reencuentro» (Stimmen einer Wiederbegegnung).
Der Dokumentarfilm, realisiert von der Fundación Pueblo Kawésqar, zeigt diese Begegnung und ihre lange Vorgeschichte. Am Sonntag feiert er im Völkerkundemuseum Premiere.
«Museum war involviert»
Die Kawésqar sind ursprünglich eine nomadische Kultur, die in den unwirtlichen Fjorden und Inseln des südlichen Chile auf Booten und in transportierbaren Hütten lebten. Von Kolonisatoren wurden sie zur Sesshaftigkeit gezwungen, und ihre Nachfahren kämpfen heute um die Anerkennung ihrer Sprache und ihrer Gebräuche.
Es sei bemerkenswert, sagte Francisco González von Pueblo Kawésqar vergangenes Jahr zur NZZ: «Wir hatten es in der Schweiz leichter, ein Museum zu finden, als in unserer Heimat.»
In Zürich, das zeigt der Dokumentarfilm eindrücklich, wurden die Chilenen ganz anders empfangen als ihre Vorfahren. Elisabeth Stark, Vizerektorin der Universität Zürich, sagte bei ihrer Begrüssung: «Es ist für uns ein gutes Zeichen, dass Sie als Nachfahren der Kawésqar, die in Zürich gestorben sind, gekommen sind, um den Faden der Geschichte wieder aufzunehmen.»
Die Direktorin Flitsch sagt im Film unumwunden: «Mein Museum war in die Praxis der Menschenzoos involviert.» Heute habe es jedoch die Gelegenheit, etwas anderes zu sein: «ein Ort der Begegnung, der ein Stück Wissen über die Welt bewahrt».
An das Vergangene erinnern, aber daraus etwas Neues knüpfen: Das war die Idee der Ausstellung, die die Kawésqar in Zürich realisierten.
Das Schilfgras, das sie nach Zürich brachten, verwandelte sich Workshop um Workshop, Begegnung um Begegnung in geflochtene Ohrringe, Körbchen und Anhänger. «Viele, viele kamen, interessierten sich für unser Können. Sie sahen, dass es ein Schatz ist», sagt Pérez. «Und wir waren es, die es ihnen beibrachten.»
Das Schilf der Kawésqar, das nach 140 Jahren in der Stadt landete, wo einst ihre Vorfahren litten: Die Zürcherinnen und Zürcher liessen es diesmal nicht vertrocknen.
«Ko Aswál: Voces de un reencuentro», 50 Minuten. Premiere Sonntag, 26. Mai, Völkerkundemuseum Zürich. 13.00 Uhr auf Englisch, 15.00 Uhr auf Spanisch. Der Film ist auch online auf Youtube abrufbar.