Wie die Aufarbeitung des Credit-Suisse-Niedergangs und die Verhandlungen mit der Europäischen Union zusammenhängen.
Der Druck auf die Schweiz stieg, als Ursula von der Leyen zu lächeln begann. Die Präsidentin der Europäischen Kommission war am Freitag in einer Limousine in Bern angekommen, an der ein Fähnchen der EU wehte. Dann schritt sie über den roten Teppich in den Bernerhof. «Wir sind uns so nah, wie man sich nur sein kann», sagte sie über die Schweiz und die EU. Je länger sie redete, desto mehr schloss sie die Schweiz in ihre Unionsarchitektur ein. Die heutige Welt sei hoch vernetzt, sagte sie, geopolitische Spannungen wirkten sich sofort aus, «in der Schweiz genauso wie in unseren siebenundzwanzig Mitgliedstaaten». Kraftvolle Partnerschaften seien «ein Muss». «Wir teilen uns einen Kontinent, unser Europa.» Fragen nahm sie keine entgegen.
Zuvor hatte Viola Amherd, die Bundespräsidentin der Schweiz, von einem «Meilenstein» gesprochen. In einer «fragmentierten globalen Ordnung» sei dieser Abschluss der Verhandlungen ein «starkes, positives Signal». Manchmal schaute sie von ihrem Manuskript auf, um den Blick ihrer Kollegin zu suchen.
Ursula von der Leyen lächelte. Sie sagte: «Mit dem Abkommen erkennen wir an, was historisch zwischen uns gewachsen ist.» In der Schweiz beginnt die Diskussion über das Ergebnis der Verhandlungen erst, noch nicht einmal der Bundesrat kennt den genauen Vertragstext, aber sie rühmte bereits in den höchsten Tönen eine noch gar nicht geschaffene Realität. Bevor sie hinter den Kulissen verschwand, gab sie Amherd mit rechts die Hand – und fasste ihr mit links an den Rücken. Sie hatte alles im Griff.
Verteidigen
Es war eine symbolhafte Miniatur. Die Geschichte der Schweiz erzählt von der ewig prekären Lage des Kleinstaats im Druckgebiet der Grossmächte. Im besten Fall bewegt man sich auf der ganzen Welt, ohne wirklich wahrgenommen zu werden. Im Privaten lernt man schon als Kind, besser nicht aufzufallen. Im Geschäftlichen hat man sich der Diskretion verschrieben, im Politischen der Neutralität. Das sind die Prinzipien. Im schlechteren Fall aber spürt man dennoch, wie am Freitag im Bernerhof, eine Hand am Rücken. Das kürzeste Porträt der Schweiz zählt drei Worte: Überleben unter Druck.
Entsprechend sind die Leute konstituiert. Schon Napoleon soll zu seinen Marschällen gesagt haben: «Messieurs, greifen Sie mit Schweizern niemals an – sie sind geborene Verteidiger.» In seinem Rückzugsgefecht im Jahr 1812 hatte er ein Schweizer Regiment als Arrieregarde eingesetzt – um die Reste seiner Armee vor den anstürmenden Russen zurück über die Beresina zu retten. Auch im Zweiten Weltkrieg hätte die Schweiz auf ihre Verteidigung vertraut: auf das Reduit. Man hätte das halbe Land aufgegeben und sich in die Berge zurückgezogen, um sich zu behaupten.
Und selbst als sich die internationalen Kämpfe vom Schlacht- auf das Fussballfeld verlegt hatten, profilierte sich die Nationalmannschaft lange vor allem mit der Abwehrkette, die «Schweizer Riegel» genannt wurde.
Die Schweiz verflucht den Druck, der auf sie einwirkt, und sie braucht ihn: um sich über sich selbst klar zu werden. Der Angriff ist ihre Sache nicht – er setzt individuellen Wagemut voraus. In der Schweiz, wo es für alles zuerst eine Mehrheit braucht, herrscht fast zwangsweise der kollektive Kompromiss.
Die Diskussion über institutionelle Regeln, auf die die Europäische Union drängt, entfesselt die Selbstbehauptungskräfte. Am frühen Freitagmorgen stellten sich einige Frauen und Mannen der SVP mit Grablichtern und einer Hellebarde auf den Bundesplatz, um die Schweiz vor einem «Unterwerfungsvertrag» zu warnen. Und am Nachmittag traten die Bundesräte Cassis, Parmelin und Jans vor die Medien, um das Ergebnis der Verhandlungen zu verteidigen, die der Bundesrat initiiert hatte. Auf die Frage, worin sich das neue Vertragspaket vom alten, abgelehnten Rahmenabkommen unterscheide, antwortete Ignazio Cassis: «Wir haben unsere Interessen viel stärker verteidigt. Deshalb stehen wir auch mit Stolz da.» Am Ende der Medienkonferenz wies Cassis seinen Chefunterhändler Patric Franzen an, er solle aufzählen, wo sich die Schweiz in den Verhandlungen erfolgreich behauptet habe. «Die Liste ist natürlich relativ lang», sagte Franzen.
Durchwursteln
Die Schweiz war immer gut darin, sich durch die Geschichte zu wursteln. Dabei war Widersprüchlichkeit nie ein Problem, wichtiger ist es, den eigenen Erfolg zu bewahren: Die Neutralität erhielt man zwar auch im Kalten Krieg aufrecht, aber es war eine westliche Neutralität, um dem Druck der wichtigsten Verbündeten nachzugeben. Am Bankgeheimnis, so erklärte Bundesrat Hans-Rudolf Merz den «Angreifern» aus der Europäischen Union noch im Jahr 2008, «werdet ihr euch die Zähne ausbeissen» – bis es der Bundesrat ein Jahr später aufgab, nach einem Austausch der UBS mit der amerikanischen Justiz. Auch die Selbstlügen gehören zum Erfolgsmodell.
In seltenen Momenten nur wird der Druck so gross, dass er unerträglich zu werden droht: So etwa im März des Jahres 2023, als innert weniger Tage der amerikanische Botschafter erklärte, die Schweiz stehe wegen ihrer Neutralitätspolitik unter Druck («Natürlich! Das ist die Schweiz gewohnt»), als ein EU-Kommissar nach Freiburg kam, um die Schweiz an ihre «Pflichten» im bilateralen Verhältnis zu erinnern – und als gleichzeitig der Aktienkurs der Credit Suisse dem Nullpunkt entgegenrasselte.
Der frühere Bundesrat Ueli Maurer hatte wenige Monate zuvor noch gesagt, man müsse die kriselnde Bank «jetzt einfach ein Jahr oder zwei in Ruhe lassen». Aus dem Satz sprach die schweizerische Urerfahrung, man werde sich schon irgendwie durchwursteln. Als Maurer aus dem Bundesrat ausschied, sagte er seiner Nachfolgerin im Finanzdepartement, die Lage der Credit Suisse sei «stabil». Aber die Lage war längst ausser Kontrolle geraten – vor allem ausser Kontrolle der Schweiz. Zum Untergang trugen schliesslich (nach jahrelangem Missmanagement) eine Regionalbankenkrise in den USA, ein Twitterer aus Australien und der Präsident der Saudi National Bank bei, der wichtigsten Aktionärin der Credit Suisse. «Absolutely not!», hatte er auf die Frage nach weiterem Geld aus Saudiarabien geantwortet. Die internationalen Finanzmärkte gaben nach.
In der dramatischen Woche vor dem Ende der Credit Suisse gerieten die schweizerischen Institutionen durch das Ausland unter Druck. Die französische Premierministerin erklärte, die Schweiz müsse rasch eingreifen. Aus Amerika und aus Grossbritannien kam laut mehreren Medien die Ansage an den Bundesrat: Ihr habt ein Problem, bringt es in Ordnung! Auch wie die Bank gerettet werden sollte – fusionieren, nicht sanieren –, sei klar signalisiert worden: «Die Schweizer Behörden [erhielten] den Eindruck, ihre Partnerbehörden würden bei einer Abwicklung eine schwerwiegende Finanzkrise erwarten und daher auf das Zustandekommen einer Fusion drängen.»
So formuliert es die parlamentarische Untersuchungskommission, die ihren Bericht ebenfalls am Freitag vorstellte – am Tag, an dem der Bundesrat das Ergebnis der Verhandlungen mit der EU präsentierte. Die Gleichzeitigkeit hatte ihre Logik, im einen Dossier versuchte die Politik ihre Selbstbehauptungskräfte zu demonstrieren (Europäische Union), im anderen ihre Selbstreinigungskräfte (Credit Suisse). In beiden Dossiers ging es um die gleiche Frage: Was ist die Stellung der Schweiz im Dauerdruckgebiet der globalisierten Welt?
Verschweizern
Der Bericht der parlamentarischen Untersuchungskommission ist ein interessantes Dokument, um Antworten auf diese Frage zu finden: Was die Akutkrise angeht, die letzten Tage der alten Credit Suisse, liest er sich teilweise wie ein helvetischer Krimi. Unzählige Angestellte der Verwaltung versammelten sich im Bernerhof, um eine Megafusion vorzubereiten. Die Finanzministerin Karin Keller-Sutter war Tag und Nacht unterwegs, bis sie am Samstagabend im Bundesrats-Chat auf Threema vermelden konnte: «Wir haben einen Deal mit der UBS! Jetzt braucht es noch die CS.» Der Bundesrat verhinderte in täglichen Sitzungen eine internationale Finanzkrise – und führte am Sonntagabend, dem 19. März 2023, die Präsidenten der beiden bald fusionierenden Banken zu der Medienkonferenz, die die Börse in Asien beruhigen würde, die nächstens eröffnete.
Der Bericht macht den Fall der global gescheiterten Credit Suisse zu einem schweizerischen Fall. Er untersucht die Rolle von Bundesrat, Finanzmarktaufsicht und Nationalbank – wo liegt ihre Verantwortung?
Der Bericht lässt sich auch anders lesen: Der Niedergang der Credit Suisse hing mit Namen wie Archegos zusammen, einem Family-Office in New York, gegründet von einem Südkoreaner. Ihr wichtigster Aktionär kam am Ende aus Saudiarabien. Als der Bundesrat sich in die Krise einschaltete, war er abhängig vom Willen eines irischen Historikers namens Colm Kelleher, dem Präsidenten der UBS. An einer Sitzung am Tag der Rettung soll die Direktorin der Eidgenössischen Finanzverwaltung vom internationalen Druck auf die Schweiz berichtet haben, der «unglaublich gross» sei. Und an der Medienkonferenz hätten der Bundespräsident und die Bundesrätin – was sie sonst nicht machen – auch Englisch gesprochen, «um die ausländischen Behörden und internationalen Akteure zu beruhigen».
Üben wir Druck aus? Wird Druck auf uns ausgeübt?
Boxen
Als Karin Keller-Sutter von der parlamentarischen Untersuchungskommission zu diesen Fragen angehört wurde, sagte sie zwar aus, die Behörden in den USA und in Grossbritannien hätten ihre Interessen insofern klargemacht, als dass sie eine Abwicklung der Credit Suisse vermeiden wollten. Dann folgt im Bericht aber eine Klarstellung: «Diese Rückmeldungen nahm die EFD-Vorsteherin jedoch nicht als Druckausübung wahr.» Der Präsident und der Vizepräsident der Nationalbank hätten ebenfalls bestätigt, dass ihnen keine «direkte Druckausübung» aus dem Ausland bekannt sei.
Sie wehrten sich nicht nur gegen Druck, sondern schon gegen den Anschein von Druck. Auch das gehört zu den Überlebensprinzipien des Kleinstaats: die Behauptung der eigenen Autonomie. Das Ergebnis der Verhandlungen mit der Europäischen Union rief am Freitag kontroversere Reaktionen hervor – weil Druck auf die schweizerischen Institutionen zu spüren ist. Der Untersuchungsbericht zur Credit Suisse war hingegen ein Versuch der Selbstvergewisserung, er wurde von Mitgliedern aus allen Parteien gemeinsam verabschiedet. Mögen einzelne schweizerische Institutionen auch Fehler gemacht haben, so lautet die Botschaft des Berichts dennoch: Es kommt auf sie an.
Karin Keller-Sutter wurde in den Tagen des Credit-Suisse-Niedergangs in Banker-Kreisen «the boxer» genannt – wohl nicht nur deshalb, weil sie einmal in der Woche boxt. In einem Ringier-Interview hatte sie einst erklärt, wie wichtig dabei die Selbstverteidigung sei. Ihr Trainer sage immer: «Deckung, Deckung, Deckung!»