Noch 40 000 Menschen in fünf Tälern der Dolomiten sprechen Ladinisch. Die Sprache hat 2000 Jahre überlebt – und ist jetzt vom Aussterben bedroht. Ein Besuch in St. Ulrich in Südtirol.
«Gherdëina, Gherdëina
de l’oma si rujné,
rejona, rejona
y no te l dejmince»
. . . steht auf der Hauswand des ockergelben Gebäudes in St. Ulrich mitten in den Dolomiten. Die Zeilen stammen aus dem Jahr 1921, aus dem Lied «Gherdëina, Gherdëina» von Leo Runggaldier. Der Schriftsteller besang darin seine Muttersprache Ladinisch. Auf Deutsch übersetzt bedeutet die Inschrift: «Gröden, Gröden, deine Muttersprache, sprich sie, sprich sie und vergiss sie nicht.»
Ladinisch gilt laut Unesco als gefährdete Sprache. Nur noch 35 000 bis 40 000 Menschen in fünf kleinen Tälern der Dolomiten sprechen eine Variante davon. Ausser in Gröden wird Ladinisch im Fassatal, in Buchenstein und im Gadertal sowie im Becken von Ampezzo gesprochen. Manche hier fürchten: Die Sprache könnte aussterben.
Die Region erlebt einen Wandel, wie ihn viele Berggebiete in den Alpen kennen. Das riesige Skigebiet Dolomiti Superski in den Dolomiten ist beliebt bei Touristen. Das führt zu massiv steigenden Immobilienpreisen. Auch die Zuwanderung nimmt zu – durch die wachsende Hotelbranche, aber auch Migration nach Europa. Die Folgen: Zum einen kommen immer mehr Fremdsprachige in die Region. Zum anderen können sich Einheimische oft kein eigenes Haus mehr leisten. Sie sind zum Abwandern gezwungen. Und mit ihnen geht auch die Sprache.
Eine Frage der Identität
«Bun dì! Co vara pa?», sagt Sofia Stuflesser. Der Klang erinnert ein wenig an Portugiesisch und hat doch etwas ganz Eigenes. «Hallo, wie geht’s?», fragt sie. Stuflesser, 29 Jahre alt, gehört zu einer Gruppe von Einheimischen, die sich für den Erhalt der Sprache einsetzen. Ihr Grossvater war Schriftsteller, beide Eltern sind Ladiner, zu Hause wurde ausschliesslich Ladinisch gesprochen – mittlerweile ist das eine Seltenheit in der Region.
Dass Stuflesser mit ihren Eltern nur Ladinisch sprach, war in der Schule ein Problem. Ihre Eltern wurden aufgefordert, auch Deutsch oder Italienisch mit ihrer Tochter zu sprechen. Aber sie weigerten sich. «Wir wachsen hier ohnehin mit mehreren Sprachen auf, wir sind multikulturell», sagt Stuflesser. Und dennoch nimmt Ladinisch einen grossen Stellenwert ein: «Diese Sprache ist unsere Identität, unsere Wurzel.»
Stuflesser, die als Lehrerin für Ladinisch arbeitet, engagiert sich ehrenamtlich im Verein Union di Ladins de Gherdëina, organisiert Poetry-Slams und Buchpräsentationen, sogar Reisen ins sprachlich verwandte Graubünden. Die rätoromanischen Idiome Vallader und Puter kann Stuflesser verstehen, aber verständigen kann man sich nur bedingt.
Derzeit arbeitet Stuflesser an der Digitalisierung der ladinischen Kultur. Die über 400 ladinischen Lieder, die es gibt, sollen online zugänglich gemacht und deren Texte gelesen werden können. Der Verein gibt auch ladinische Bücher heraus. Ehrenamtliche schreiben und illustrieren Bilderbücher für Kinder und Kursbücher für Erwachsene. Stuflesser sagt, die Sprache in den Tälern lebe von der Freiwilligenarbeit.
Stuflesser unterrichtet an der Schule in St. Ulrich. Genauso wie David Lardschneider. Lardschneider, Grödner und 56 Jahre alt, engagiert sich in Vereinen, zusätzlich ist er in der Lokalpolitik aktiv. Er engagiert sich auch dafür, dass Ladinisch im Landtag in Bozen anerkannt wird – bis heute wird dort nur Deutsch und Italienisch gesprochen. Für Lardschneider unverständlich. Er sagt: «Sprache ist nicht nur Kommunikation, sie ist Identität und Persönlichkeit.»
Lardschneider sprach mit seinen inzwischen erwachsenen Kindern zu Hause nur Ladinisch. Seine Frau, die aus Bozen stammt, musste es erst lernen. Lardschneider schmunzelt und sagt: «Sonst hätte ich sie nicht geheiratet.»
Lardschneider gibt auch Erwachsenen Sprachunterricht. Wer im Grödnertal in öffentlichen Ämtern arbeiten will, muss Deutsch, Italienisch und Ladinisch beherrschen. Wer Prüfungen in allen drei Sprachen vorweisen kann, bekommt als Beamter eine höhere Besoldung.
Trotzdem verliert Ladinisch stetig an Niveau: «Die Qualität der Sprache geht verloren», sagt Lardschneider. Die öffentliche Schule könne dem kaum entgegenwirken. Zwei Stunden Unterricht seien für Schüler viel zu wenig, um Rechtschreibung und Grammatik zu beherrschen. So viel Ladinisch sieht der Lehrplan pro Woche vor. Die übrigen Fächer werden zu gleichen Teilen auf Deutsch und Italienisch unterrichtet.
Und es gibt Menschen, die den Wert des Ladinischen nicht mehr schätzen. Sie sagen, man komme ja ohnehin nicht weit mit der Sprache. «Aber es geht bei dieser Sprache nicht um Funktionalität», sagt Lardschneider: «Sie ist unsere Seele.»
Lange geschützt, später unterdrückt und heute als Amtssprache anerkannt
Lardschneider weiss alles über die Entstehung des Ladinischen. Lässt man ihn erzählen, schwärmt er bald, verliert sich in der jahrtausendealten Geschichte der Region und der Sprache.
Ladinisch entstand aus dem sogenannten Vulgärlateinischen, das die römischen Beamten 15 v. Chr. bei der Eroberung des Alpenraums mitbrachten, und dem Rätischen, der Sprache, die das Bergvolk der Dolomiten damals nutzte. Mit der Völkerwanderung aus dem Norden nach Südtirol und dem Einfluss der Venetier aus dem Süden wurden die Dolomitenladiner von den späteren Rätoromanen Graubündens sprachlich auseinandergetrieben.
Ladinisch blieb durch die Abgeschiedenheit der Berge über Jahrhunderte konserviert. In jedem der fünf ladinischen Täler entwickelte sich ein eigenes Idiom. Ladinisch bestand über Jahrhunderte nur als gesprochene Sprache, es war die Ausdrucksweise eines lange Zeit durch Bauern geprägten Volkes. 1933 wurde das erste ladinisch-deutsche Wörterbuch herausgegeben.
Während des Faschismus war in Südtirol nur noch Italienisch erlaubt. Ladinisch wurde zur «Katakombensprache», die im Geheimen unterrichtet wurde. Die Weltkriege und die Neuordnung der italienischen Republik rissen die ladinischen Täler auseinander. Bis heute gehören sie unterschiedlichen Provinzen an, nicht alle haben einen Autonomiestatus. Das erschwert es den Ladinern, sich für den Erhalt ihrer Sprache zu engagieren. Immer wieder gibt es Initiativen für die Wiedervereinigung der Gebiete der Ladiner.
Dank dem Autonomiestatus der Region Trentino-Südtirol, in der das Grödnertal liegt, können Ladiner dort einfacher Massnahmen zum Schutz ihrer Kultur und Sprache ergreifen. Dazu zählt der mehrsprachige Unterricht in den Schulen. Erst 1988 wurde Ladinisch in Südtirol als dritte Amtssprache anerkannt – ein wichtiger Schritt, um Ladinisch zu erhalten.
Die Jugendlichen nutzen Ladinisch für Social Media
Eine zentrale Rolle für den Erhalt der Sprache spielen auch die Medien. Der öffentlichrechtliche Sender RAI in Bozen sendet ein ladinisches Radioprogramm. Zweimal täglich werden zudem ladinische Nachrichten ausgestrahlt. Es sind nur wenige Minuten am Tag, aber für die Ladiner sind sie wertvoll.
Seit 1949 haben die Ladiner eine eigene Zeitung. Auf «Los Ladins» folgte in den 1970er Jahren «La Usc di Ladins» – die Stimme der Ladiner. Die Wochenzeitung hat für jedes der fünf ladinischen Täler eine eigene Seite. Doch auch «La Usc di Ladins» spürt den Wandel. Die Auflage der Wochenzeitung geht zurück. 2020 druckte man noch 4500 Ausgaben, jetzt sind es etwa 3500 Exemplare.
Bruno Maruca ist 26 Jahre alt und verantwortlicher Redaktor für das Grödnertal. Er ist einer von neun Mitarbeitern. Wenn das Telefon klingelt, spricht er Ladinisch, im Gespräch mit Besuchern wechselt er zwischen Deutsch und Italienisch.
Privat liest und schreibt er viel auf Italienisch: «Ladinische Schriftsteller gibt es ja kaum», sagt Maruca mit einer Spur von Bedauern. Er ist als Sohn eines Kalabriers und einer Ladinerin dreisprachig aufgewachsen, wie so viele hier. «Mit meinem Vater spreche ich Italienisch, mit meiner Mutter Ladinisch und mit meinen Schwestern den Südtiroler Dialekt.» Ladinisch ist ihm aber sehr wichtig. Durch die Sprache bleibe das Dorfleben erhalten und auch die Kultur, sagt er. «Die Sprache zu sprechen, hat etwas Intimes.»
Bruno Maruca fürchtet sich nicht davor, dass Ladinisch aussterben könnte. «Ladinisch wird sich verändern, wie jede Sprache», sagt er. Aber Ladinisch werde erhalten bleiben. Maruca zeigt auf seinen Bildschirm, er ist mit halb St. Ulrich vernetzt. Die Whatsapp-Nachrichten auf dem Bildschirm sind alle auf Ladinisch formuliert. Jugendliche aus der Region schreiben in den sozialen Netzwerken oft auf Ladinisch. Auch weil Aussenstehende sie nicht verstehen. Ladinisch ist dann ihre Geheimsprache.