Ein Team von Wissenschaftern hat die Medaillenausbeute von 17 Ländern an den Olympischen Spielen in Paris verglichen. Die Schweiz fördert den Sport dezentraler als andere Länder – und das lässt sich wohl nicht so schnell ändern.
Am Dorfrand von Sarnen, Kanton Obwalden, steht ein Betonbau aus den 1980er Jahren, 500 Meter vom See entfernt. In diesem Gebäude befindet sich das Nationale Leistungszentrum der Schweizer Ruderinnen und Ruderer. Es sei «landschaftlich reizvoll» und «ruhig» gelegen, schreiben die Betreiber auf der Website. Unter anderen trainierten dort Roman Röösli und Andrin Gulich – sie gewannen im vergangenen Sommer an den Olympischen Spielen in Paris zusammen Bronze.
Leistungszentren wie jenes im Rudern gibt es verteilt über die ganze Schweiz. Die Velofahrer und Mountainbiker haben einen Stützpunkt in Grenchen, Tennisspielerinnen trainieren in Biel, Schützinnen in Magglingen und Umgebung, die Triathleten in Sursee, Leichtathletinnen und Leichtathleten in kleinen Trainingsgruppen im ganzen Land.
Der Skiverband Swiss Ski unterhält für die Alpinen, Nordischen, Freestyler und Snowboarder drei Zentren in Brig, Davos und Engelberg. Hinzu kommen die nationalen Sportzentren in Magglingen und Tenero. Ausserdem gibt es das privat finanzierte OYM in Cham. Sportartenübergreifende Koordination gibt es wenig, jedes Zentrum verfügt zum Beispiel über eigene Athletiktrainerinnen und Physiotherapeuten. Ist das Schweizer Sportsystem ein ineffizienter und teurer Flickenteppich, wie er typisch für ein föderalistisches Land sein könnte?
Eine niederländische Olympiamedaille kostet einen Zehntel
An den Olympischen Spielen in Paris errang die Schweizer Delegation acht Medaillen, fünf weniger als 2021 in Tokio. Wissenschafter haben nach Paris die Medaillenbilanzen von 17 Ländern untersucht – und kommen zu dem Schluss: Die Schweiz hat weniger Medaillen gewonnen als erwartet; heruntergebrochen auf die Ausgaben für die Sportförderung waren die Podestplätze im Ländervergleich obendrein teuer.
Ein grosser Teil der Investitionen stammt im Schweizer Sport aus Lotteriegeldern sowie vom Staat. Diese Mittel nahm die Studie als Grundlage für die Auswertungen. Sponsorengelder wurden nicht berücksichtigt. Gemessen an den Geldern, die während des letzten Olympiazyklus seit 2021 aus Lotterie und Staat in den Sport flossen, kostete eine Schweizer Medaille in Paris im Durchschnitt 74 Millionen Franken. In den Niederlanden waren es 7,4 Millionen, also ein Zehntel davon.
Das ist auch Zahlenspielerei; Lohnniveau und Lebenshaltungskosten wurden nicht berücksichtigt. Ausserdem beziehen sich die Investitionen in der Studie zusammengefasst auf Sommer- und Wintersportarten. An den Olympischen Spielen 2022 in Peking gewann die Schweiz 15 Medaillen – alle durch den Skiverband Swiss Ski, der dank Vermarktung der Weltcup-Rennen in der Schweiz und lukrativen Sponsorenverträgen über ein üppiges Budget verfügt.
Trotz Unschärfe in der Studie lohnt sich ein Blick in die Niederlande, wo der Gewinn einer Olympiamedaille so viel günstiger scheint. Das Land verfügt über eine doppelt so grosse Bevölkerung wie die Schweiz, hat in Paris aber dreimal so viele Medaillen wie Swiss Olympic gewonnen; an den Winterspielen in Peking war der Unterschied kleiner, die Niederlande erreichten da immerhin 17 Podestplätze. Mit einem völlig anderen Sportsystem, als es in der Schweiz besteht.
Es lohnt sich der Blick nach Papendal
Die Niederländer verfügen in Papendal seit mehr als fünfzig Jahren über ein riesiges Sportzentrum. Dort trainieren 350 Sportlerinnen und Sportler aus verschiedenen Disziplinen, studieren oder gehen zur Schule. Es gibt ein Leichtathletikstadion, Reitanlagen, Sporthallen und sogar eine BMX-Piste. Alle profitieren von den besten Sportärztinnen, Physiotherapeuten, Ernährungsberatern, Psychologen und Athletiktrainerinnen des Landes. Finanziert wird das Zentrum vom Staat, vom nationalen Olympischen Komitee sowie durch den Hotelbetrieb und Events, die in Papendal angeboten werden.
Einen ähnlichen Weg gehen die Norweger, die in Oslo den Olympiatoppen unterhalten, ein nationales Spitzensportzentrum. Es gibt dort sportartenübergreifende Trainings sowie einen engen Austausch in der Verletzungsprävention und in der Sportmedizin. Norwegen hat sowohl in Peking als auch in Paris mehr Medaillen gewonnen als die Schweiz – trotz nur 5,5 Millionen Einwohnern, ähnlichem Lohnniveau und vergleichbaren Lebenshaltungskosten. Würde mehr Zentralismus die Schweiz erfolgreicher machen?
Andreas Weber ist Sportökonom und leitet die Fachgruppe «Sportsysteme» an der Eidgenössischen Hochschule für Sport in Magglingen. Weber hat an der internationalen Auswertung der Spiele von Paris mitgearbeitet. Er sagt, der Erfolg eines Sportsystems an Olympischen Spielen sei vor allem vom Bruttoinlandprodukt pro Kopf und von der Bevölkerungsgrösse abhängig – und gelangt zu dem Fazit: «Rechnet man die Medaillenausbeute im Sommer und im Winter zusammen, steht die Schweiz sehr gut da.»
Weber ist im Bundesamt für Sport (Baspo) angestellt und legt Wert darauf, dass er sich aus wissenschaftlicher und nicht aus politischer Sicht äussere. 2019 hat er mit anderen Forschern das hiesige Sportsystem untersucht und in der Studie «Leistungssport Schweiz 2019» zusammengefasst. Diese kommt unter anderem zu der Konklusion, dass bei der «sportartenübergreifenden Strukturförderung» Verbesserungspotenzial bestehe. Die Autoren schreiben: «Kooperationen bei Leistungszentren, Wettkämpfen sowie bei Forschung und Entwicklung schaffen einen Wettbewerbsvorteil.»
Föderale Strukturen verunmöglichen Zentralisierung im Spitzensport
Einfach lässt sich mehr Zentralismus in der Schweiz nicht realisieren, es gibt hohe Hürden. Andreas Weber sagt: «Der Staat unterstützt die Sportförderung subsidiär, überlässt der privaten Initiative wie in anderen Bereichen der Gesellschaft viel Raum. Das Baspo erhebt keinen Führungsanspruch in der Entwicklung der Sportarten.»
Das liege an der föderalistischen Struktur der Schweiz, die sich auf die Finanzierung des Sportsystems übertrage. Die Sportförderung in der Schweiz basiert primär auf privatrechtlicher Initiative; im Unterschied zu Deutschland, den Niederlanden, Italien oder Frankreich sowie zur Mehrheit der skandinavischen Länder, wo der Staat einen Grossteil dieser Aufgabe übernimmt.
Der Schweizer Staat unterstützt den Sport mit Jugend-und-Sport-Geldern oder via Spitzensportförderung der Armee. Er lässt aber den Verbänden beim Einsatz der Mittel und bei der strategischen Entwicklung Gestaltungsmöglichkeiten. Anders als in Grossbritannien oder den Niederlanden fehlen strategische, öffentliche Zielvorgaben von oberster Stelle. Weber sagt: «Die Niederländer haben deutlich kommuniziert, dass sie zu den besten zehn Nationen an Sommer- und Winterspielen gehören wollen. Eine Vision für den internationalen Erfolg als Sportnation fehlt der Schweiz.»
Die Schweiz fördert den Sport über die Verbände. Diese werden je nach Medaillenpotenzial und gesellschaftlicher Relevanz alle vier Jahre in fünf Kategorien eingeteilt. Nach dieser Einstufung richtet sich die Höhe der Fördergelder des Staats und des Lotteriefonds. Das führt dazu, dass nationale Leistungszentren von Verbänden finanziert und betrieben werden. Jeder schaut für sich, es fehlt an einer übergeordneten Institution, welche die Führung übernehmen könnte.
Andreas Weber sagt: «Die Maximierung von Medaillengewinnen steht in der Schweiz nicht im Vordergrund. Deshalb wird der Sport breit gefördert und die gesellschaftliche Relevanz berücksichtigt.» Das zeige sich auch in der stärkeren Gewichtung eines gesunden, ethisch korrekten Sports, die das Baspo mit Swiss Olympic angestossen habe.
Anders ist das in den Niederlanden, die den Sport projektbasiert unterstützen. Weber spricht mit Blick dahin von «Business-Cases». Die Verbände reichen beim Niederländischen Olympischen Komitee ein Dossier ein, das durch ein Expertengremium geprüft wird. Wird das Projekt für fördernswert befunden, fliesst Geld. Das ist beispielsweise im Handball geschehen. Noch vor einem Jahrzehnt spielten die Niederlande in dieser Sportart eine untergeordnete Rolle. Mittlerweile haben sie sich für mehrere EM und WM qualifiziert und es in die erweiterte Weltspitze geschafft.
Das Beispiel Flag-Football
In der Schweiz ist die Verteilung der Gelder komplizierter. Das Steuersubstrat ist – anders als in Norwegen oder den Niederlanden – vor allem bei Kantonen und Gemeinden und nicht auf Bundesebene vorhanden. In den niederländischen und norwegischen Leistungszentren absolvieren die Sportler Training und Ausbildung unter einem Dach, auch das wäre in der Schweiz schwierig zu realisieren, denn Bildung ist hierzulande Sache der Kantone. Weber sagt: «Die föderalen Strukturen der Schweiz schliessen die Zentralisierung der Spitzensportförderung aus.»
Weber sieht in diesen Strukturen allerdings auch Vorteile für die Sportförderung. Er sagt: «Langfristig ist dieses System robuster, weil es flexibler auf Veränderungen reagieren kann.» Die Verbände passen sich etwa rascher an das wechselnde Olympiaprogramm an. Ein Beispiel dafür findet sich im Flag-Football: Die Disziplin wird 2028 in Los Angeles erstmals im olympischen Programm sein, die Schweiz hat hier einen Trend erkannt und gewann zuletzt WM-Bronze in dieser Sparte.
«Es geht nicht um mehr Beton, sondern um mehr Vernetzung»
Weber sagt, Zentralisierung sei in einem Sportsystem nicht das Allerheilmittel. «Die Norweger verlegen die Förderung vom Olympiatoppen teilweise zurück in die Regionen. Ähnliche Tendenzen sehen wir in Frankreich», sagt er. Dies, weil sonst Know-how im restlichen Land verlorengehe und so das System geschwächt würde.
Weber spricht sich dennoch für mehr Zusammenarbeit aus und verweist auf das Projekt «Olympiapark Schweiz», das nicht die Erstellung neuer Infrastruktur vorsieht. «Es geht nicht um mehr Beton, sondern um mehr Vernetzung.» Olympiapark soll den (digitalen) Austausch zwischen Sport, Forschung und Wirtschaft fördern, um Sport und Gesellschaft nachhaltig zu stärken. Weber sagt: «Die Schweiz ist erneut Innovationsweltmeister geworden, aber der Sport profitiert von der Spitzenforschung noch zu wenig.»
Der Sportökonom sieht dabei den Föderalismus im Schweizer Sport als «spannenden Weg». Er sagt: «Weil die Strukturen so vielfältig sind und keine zentralistische Förderung besteht, können wir auf der grünen Wiese einen Plan für die Zukunft machen.» Zu diesem Plan gehört nebst dem Projekt Olympiapark auch die mögliche Durchführung der Olympischen Winterspiele im Jahr 2038. Bis dann wird sich der Schweizer Sport vielleicht sogar auf eine Vision geeinigt haben.