Wir leben in einem postromantischen Zeitalter. Liebe wird analysiert und geplant, aber ihren Zauber verloren, hat sie nicht.
Die französische Psychoanalytikerin Marie Bonaparte beschäftigte sich jahrzehntelang mit der Erforschung weiblicher Sexualität. Eines Tages konstatierte sie in einem Brief an Sigmund Freud: «Die grosse Frage, die ich trotz meinem dreissigjährigen Studium der weiblichen Seele nicht zu beantworten vermag, lautet: Was will eine Frau eigentlich?»
Nicht nur Marie Bonaparte fand keine Antwort. Die Frage bleibt so schwer zu beantworten wie die nach dem Wesen von Liebe und Erotik insgesamt. Dabei scheinen seit dem Siegeszug des Internets mit seinen Dating-Portalen die Rätsel eher grösser als kleiner zu werden. Längst sind nicht mehr nur Psychoanalyse, Philosophie und die Neurowissenschaften auf Lösungssuche, sondern auch die Soziologie und andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen.
Die Soziologin Eva Illouz zum Beispiel, die den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Prägungen und emotionalen Bindungen untersucht. Sie will herausfinden, was es mit dem digitalen Paarungsverhalten, besonders von Grossstädtern, auf sich hat. Und kommt zum Schluss, dass wir in einem «postromantischen Zeitalter» leben. Die romantische Liebe sei mit der Marktwirtschaft verschmolzen und habe eine Entzauberung bewirkt. Daraus speise sich der verbreitete Wunsch, die Liebe wieder zu mystifizieren.
Hoffnungslos romantisch
Ist das ein primär weibliches Phänomen? Kaum, wie diverse Untersuchungen belegen. Trotzdem legen die medialen Aufbereitungen des Themas den Schluss nahe: Frauen seien hoffnungslose Romantikerinnen, männlicher Begierde hilflos ausgeliefert. Besonders dramatisch liess sich das an den Schlagzeilen über Musiker wie Marilyn Manson und Till Lindemann oder den Schauspieler Gérard Depardieu und den Schriftsteller Frédéric Beigbeder ablesen, die scharenweise Frauen missbraucht haben sollen.
Das Perfide an diesen Diskussionen ist, dass sie es Frauen noch schwerer machen, sich aus der Opferrolle zu befreien. Denn wo es Opfer gegeben haben könnte, scheint die Lust der Frau, die sich freiwillig auf solche Spielchen einlässt, erst recht unangebracht. Das sind herbe Rückschläge für auch sexuell selbstbestimmte Frauen.
Warum fallen wir immer wieder in die alten Klischees zurück? Frauen sind nicht und waren nie (nur) Opfer, sondern immer (auch) kalte, erotisch ungehemmte, unromantische Verführerinnen. Die Beispiele aus Geschichte und Literatur sind beeindruckend – und sie sind nicht immer männlicher Phantasie entsprungen.
Nicht ohne Nebenwirkungen
Schon in den homerischen Epen wird ein Panorama weiblicher Verführerinnen gespannt, ausgehend von der Spartanerin Helena, dem Ideal weiblicher Attraktivität schlechthin. Auch die Sklavin Briseïs, die zum Zankapfel von Achill und Agamemnon wird, hat ihre erotischen Momente. Diese werden aber im Zerrspiegel von Sklaverei und Gewalt zum Verschwinden gebracht. Wer in diesen Frauen auch erotisch Begehrende erkennt, sieht sich rasch mit dem Vorwurf konfrontiert, das Leid von Opfern herunterzuspielen.
Vielleicht ist Liebe überhaupt nicht ohne Risiken und Nebenwirkungen zu haben. Für Romantiker enttäuschend ist jedenfalls, wie viel Liebe im zerebralen Bereich stattfindet. Die Neurobiologen haben es gezeigt: Hormone haben ihre biologischen Komplemente im Hirn. Wenn wir uns mit jemandem im Bett vergnügen wollen, werden vom Hypothalamus Dopamin und Oxytocin ins Gehirn gepumpt. Wie bei anderen Säugetieren auch.
Dabei handelt es sich um ein schnödes Belohnungssystem, das das individuelle Selbstbewusstsein steigern und ganz ohne den Drang auskommen kann, mit dem Objekt der Begierde gleich sein Leben verbringen zu wollen. Oxytocin hat sich daneben als «soziales Viagra» bewährt. Es soll helfen, Bindungen zu stabilisieren, sowohl zu Partnern als auch zu Kindern.
Auch die Frauen
Statistiken und Erfahrungen zeigen auch, dass sich Frauen in Sachen erotischer Begierde kaum von Männern unterscheiden: Auch Frauen verfügen über das «Fremdgeh-Gen», auch in ihnen mischen sich poly- und monogame Bedürfnisse, auch sie leben Untreue als Sehnsucht nach anderen Versionen von sich selbst aus, und auch auf sie haben«verbotene» Leidenschaften grosse Anziehungskraft. Frauen sind unabhängiger und freizügiger geworden, und es wundert nicht, dass sie, wenn sie besser verdienen als ihre männlichen Partner, auch öfter geschieden sind.
Freilich, die Anhänger einfacher Erklärungen würden gern alles, was ihnen störend erscheint, auf die patriarchalischen Machtverhältnisse zurückführen und den mehr oder weniger alten weissen Mann dafür in die Verantwortung nehmen. Dabei sind sie selbst es, die Weltverbesserer, die dafür sorgen, dass die öffentliche und private Blossstellung der sexuell ambitionierten Frau nicht längst zu den Akten gelegt worden ist.
Sie finden andere Wege, um die Befunde ihrer moralischen Dauerklage einzuverleiben: Demnach ist Untreue eine Art Drama der Moderne, wegen der Vervielfältigung der Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme in den letzten Jahrzehnten. Sie gilt als regelverletzendes Spielverhalten, und auch dort, wo Promiskuität oder Polyamorie begrüsst werden, werden sie noch als Resultate prekärer psychischer Dispositionen betrachtet.
Zurück in die Monogamie
Auf jeden Freiheitsschub folgt eine Modifikation. Die Erfahrungen mit dem Online-Dating bestätigen dies: Zwar scheinen die Möglichkeiten unbegrenzt, und sie werden rege genutzt. Doch lässt sich zumal bei den jüngeren Generationen wieder vermehrt das Bedürfnis nach festen Bindungen beobachten, die auch möglichst früh eingegangen werden wollen.
Überhaupt dient die digitale Kontaktaufnahme nicht nur der Risikominimierung und der Bekämpfung von Einsamkeitspanik. Sie lässt sich bequem konventionellen Standards anpassen. Man kann im stillen Kämmerlein im Angebot herumstöbern, ohne das Wagnis eines direkten Kontakts einzugehen. Interessenabgleich, Planbarkeit und Sicherheit scheinen wichtiger als eine Begegnung, die von unwägbaren Faktoren abhängt: Das ist ökonomisch.
Nur sind es nicht primär Frauen, die so den Weg zurück in die heile monogame Welt suchen. Nach der Lektüre von Erfahrungsberichten drängt sich allerdings der Eindruck auf, als würden Männer dabei öfter von einem Minderwertigkeitskomplex bedrückt, da sie ihre digitalen Paarungsgeschichten gern als Zufallsbegegnungen verkaufen. Es scheint, als versuchten sie das, was sie sich zu riskieren scheuten, in den Schein des aufregenden Erlebnisses zu hüllen.
Und was ist nun mit der Liebe? Bleibt sie dabei auf der Strecke? Keineswegs – weder die romantisch-monogame noch die erotisch-polygame, weder die digital eingeleitete noch die aus einer spontanen Begegnung entstandene. Ist die bedingungslose Liebe nur ein Phänomen der Erinnerung? Eine verlockende Perspektive, denn über die eigene Erinnerung darf im Normalfall jede und jeder selbst herrschen, ebenso wie über die Phantasie. In dieser sind die Freiheiten sowieso grenzenlos. Auch für Frauen, seien sie ungebunden oder nicht.
Melanie Möller ist Professorin für klassische Philologie mit Schwerpunkt Latein an der Freien Universität Berlin.