Ein zivilisationsmüder Mann macht sich auf die Suche nach dem Wolf. Der Schweizer Dok-Film «Tamina» bringt die widersprüchliche Mensch-Tier-Beziehung auf den Punkt
Die Hirschkuh war schwanger, die Wölfe waren schneller. Sie trieben sie, sie fassten sie und rissen sie mitten im Dorf. In der Nähe befand sich die Schule. Die Kinder stiessen am Morgen vor dem Unterricht auf den halbgefressenen Hirsch. Ein Blutbad, traumatisch.
Die Geschichte spielte sich in einer Mainacht vor acht Jahren in Vättis ab. Vättis ist ein kleines Dorf im Taminatal, in die Schlagzeilen geriet es bereits vor dem Vorfall. 2012 wurde hier das erste Wolfsrudel im Kanton St. Gallen gesichtet. Vieles ist seitdem passiert, bei den Menschen und den Tieren. Mit dem Wolf kam der Wolfstourismus.
Der Wolf erfüllt alles, was an uns verlorengegangen scheint: Wildheit, Mut, Unabhängigkeit. Er ist das Krafttier einer entkräfteten Zeit. Er bewohnt unsere Träume und nährt die Albträume. Und die grosse Sehnsucht: Städter und Städterinnen, Wald- und Wildtierromantiker erkennen in ihm die ungezähmte Natur. Menschen, die kein Fleisch essen, schwärmen für ein Tier, das nichts anderes tut als eben das. Mitten in einem Dorf sogar.
Im Taminatal kann man sich einen Ortskundigen anheuern und steigt dann mit ihm dem Wolf entgegen, in die Hänge, dort, wo er vermutet wird. 17 Rudel leben in der Gegend, eine leichte Beute für den Menschen am Fernglas, könnte man denken. Doch der Wolf ist sehr scheu, er meidet seine Feinde, wenn möglich. Nur wenn er jagt, tötet er egal wo, das ist Instinkt. Schliesslich ist er unser Verwandter, homo homini lupus.
Nur Kriechtiere
Oberhalb von Vättis war auch der Schweizer Filmemacher Beat Oswald dem Wolf auf der Spur. Zivilisationsmüde, fortschrittskritisch, grosse Fragen im Rucksack. Er will das Raubtier treffen, ihm gegenüberstehen. Angstlust treibt ihn an, die Handkamera liefert zittrige Bilder. Ein Anflug von Horror-Movie, wenn er in der Nacht filmt und Tieraugen durch das knackende Dickicht funkeln.
Nach fünf Jahren im Revier ist Oswalds Film nun im Kino, «Tamina, wann war es immer so?» – und zieht ernüchtert Bilanz. Kein Wolf läuft dem Trapper jemals vor die Kamera oder in eine seiner Fotofallen. Mäuse, Kriechtiere, neugierige Füchse sehr wohl. Der vorsichtige Wolf scheint die Absicht des Menschen zu wittern.
Oswald sucht den Wolf und findet Menschen. An der Stelle der Tiere treten Talbewohner auf und Auswärtige, davon gibt es genug. Scheu sind sie nicht, und sie reden gern. Er trifft sie im Dorf und unterwegs in den Wäldern, auskunftsfreudige Wildhüter, einen Hotelier, Vättiser Frauen, Schulkinder, eine Gruppe ambitionierter Wolfs-Pilger. Sie erhoffen sich durch seine Präsenz die Heilung der Natur. Im wissenschaftlichen wie im spirituellen Naturverständnis sei die Rückkehr des Wolfs ein Gewinn.
Beat Oswalds persönlicher Film stellt Fragen nach dem Mythos Wolf und dem Klischee von Wildheit und Zivilisation. Antworten gibt er nicht. Vielmehr rettet er sich bisweilen ins Pathos. Die Natur feiert sich in opulenten Bildern, Nebel steigen, Gipfel glühen. Wiesen stehen berstend voll mit Wildblumen. So war einmal das Paradies.
Und so sieht die Vertreibung daraus aus: Gustav Mahlers «Lied von der Erde» vertonen die Felsbrocken, die ins Tal krachen. Sie donnern in die Tamina und ziehen eine Spur der Verwüstung mitten durch das Wolfsland. Der Mensch sprengt den Berg, zu welchem Ziel und Zweck auch immer. Spirituell kann das Teufelswerk nichts Gutes bedeuten.
Hinrichtung der armen Sau
«Weiss der Mensch so wenig über Tiere, weil er auch über sich so wenig weiss?», fragt sich der Regisseur. Wer über Tiere spricht, räsoniert in den meisten Fällen über sich selbst. Auch dieser Film ist keine Ausnahme. Die Mensch-Tier-Beziehung ist weitgehend eine Angelegenheit, die das Verhältnis des Menschen zu sich selbst beschreibt. Wo beginnt der Mensch, wo endet das Tier? Die Grenzziehung ist keine einfache Sache und verschiebt sich je nach Mode und Zeit.
Als man im Mittelalter Tieren eine menschliche Moral zugestand, hielt man sie infolgedessen auch für schuldfähig. Die arme Sau, die in Frankreich im 17. Jahrhundert einem Mädchen das halbe Gesicht weggefressen haben soll, wurde gemäss menschlicher Rechtsprechung durch Folter öffentlich hingerichtet. Die Strafe war kollektiv. Ihre Mitschweine aus dem nämlichen Stall mussten dem grausamen Verrecken der Täterin ausnahmslos beiwohnen.
Moral hat man dem Tier inzwischen abgesprochen, geändert hat sich in der Sache bis heute aber wenig grundlegend: Menschen bewerten Tiere ausschliesslich nach menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Je ähnlicher, umso schützenswerter, beispielsweise. Das ist nicht nur ungerechtfertigt, sondern willkürlicher Elitarismus.
Auch Hunde sind Nutztiere
Schlachten oder Streicheln, das ist die Frage. Für Tiere ist eine strikte Hierarchie vorgesehen, ein Klassen- und Kastensystem ähnlich jenem, das früher auch für Menschen galt. Tiere erster, zweiter Klasse, dritter Klasse: Es gibt Nutztiere, Versuchstiere, Haustiere. 60 Prozent aller Säuger auf der Welt, zu denen auch wir gehören, habe wir den Nutztieren zugeschlagen. Ihr Leben liegt in unserer Hand. Mit Blick auf die Hundedichte in diesem Land müsste man ehrlicherweise auch Hunde dieser Kategorie zuschlagen. Hunde nützen Menschen, Menschen nützen Hunden kaum.
Der Zeitgeschmack, überhaupt sich ein Haustier zu halten, sagt mehr über die Gesellschaft aus als über die Tierliebe von Menschen. Wer Hunde verhätschelt und sie wie ein Familienmitglied behandelt, muss nicht zwingend ein Bewusstsein für das tierische Elend haben, das beispielsweise in Schweinemastställen herrscht.
Man will nicht wissen, dass Schweine reinliche Tiere sind, dass sie mehr Intelligenz als unser Hund Rocky auf die Waage bringen, sogar mehr als die meisten Primatenarten. Nur ein totes Schwein ist ein gutes Schwein, man schätzt es auf dem Grill und auf dem Teller. Die Widersprüche, die wir uns im Umgang mit dem Wolf leisten, setzen sich im Umgang mit der Tierwelt insgesamt fort.
Diese Widersprüche sind typisch menschlich. Tieren sind sie fremd. Vielleicht macht den Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht die Sprache aus und nicht das Denken. Möglicherweise ist es die Eigenschaft, widersinnigen Dingen zu unseren Gunsten einen Sinn abzuringen. Beat Oswalds Suche nach dem Wolf ist hoffnungslos, weil er das Menschliche im Tier sucht. Weil er lieber fragt, als sich den Konsequenzen einer Antwort zu stellen.
«Wo ist er denn nun?», erkundigt sich im Wald der enttäuschte Wolfs-Kurgast, dem das Starren ins Leere allmählich zu dumm wird. Dann holt er kurz aus und erschlägt mit der flachen Hand an seinem Hals die Mücke.