Noch nie hatte die Bundesanwaltschaft so viele Verfahren wegen Geldautomat-Sprengungen auf dem Tisch wie jetzt. Auf bessere Schutzmassnahmen reagieren die Täter mit einer gefährlichen Strategie.
Anfang letzter Woche traf es das kleine Dorf Arni im Kanton Aargau: Nachts um drei wurden Anwohnerinnen und Anwohner unsanft aus dem Schlaf gerissen, als es in der Nachbarschaft mehrfach knallte und Fensterscheiben zerbrachen: Zwei bis drei Täter sprengten den Bancomaten der Raiffeisen-Bank und verschwanden Minuten später unerkannt in der Nacht. Ähnliche Szenen nur vier Tage zuvor im sankt-gallischen Mörschwil: Ein lauter Knall mitten in der Nacht, danach ein Bild der Zerstörung in der örtlichen Bankfiliale mit grossem Sachschaden und vorerst erfolgloser Grossfahndung.
Zwei Fälle innert nur gerade einer halben Woche, die zeigen, dass der Boom bei den Bancomat-Sprengungen trotz intensiven Gegenstrategien keineswegs zu Ende ist. Im Gegenteil: Noch nie hat die Bundesanwaltschaft so viele Verfahren wegen Anschlägen auf Geldautomaten geführt wie derzeit. Ende letzten Jahres liefen rund 100 Verfahren – mehr als drei Mal so viele wie drei Jahre zuvor. Auch eine neue Statistik des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) zeigt, dass die Zahl der Angriffe 2024 gegenüber dem Vorjahr wieder um 50 Prozent auf 48 Fälle zugenommen hat, nachdem sich zuvor ein Rückgang abgezeichnet hatte. Auffälliger noch: Die Anschläge mit Sprengstoff erreichten mit mutmasslich 28 Fällen sogar ein Allzeithoch.
Lasso-Methode ist out
Weil die Banken und Betreiber von Geldautomaten die Sicherheitsvorkehrungen laufend verbessern, passen die Täter ihr Vorgehen sukzessive an: So sind sogenannte Lasso-Angriffe, bei denen die Geräte mit Seilen oder Ketten aus der Verankerung gerissen werden, nach 2018 stark zurückgegangen. Laut Statistik des Fedpol kam es in den letzten Jahren nur noch in Einzelfällen zur Anwendung dieser Methode. Stattdessen nahmen Sprengungen mithilfe von Gas zu, das ins Innere der Geräte eingebracht und gezündet wird. Inzwischen können gewisse Geldautomaten jedoch Gas erkennen und den Angriff abwehren. Mit dem Einsatz von Sprengstoff reagieren die Täter auch auf diese Entwicklung.
Doch damit steigt auch die Gefahr für Leib und Leben. Beim Angriff auf den Automaten in Mörschwil musste die Feuerwehr anrücken, um den Brand nach der Explosion zu löschen. Zur Anwendung sei ein vermutlich bisher unbekannter Sprengstoff gekommen, erklärte die Polizei. Das Fedpol rät Banken deshalb schon seit einiger Zeit, keine Geldautomaten in bewohnten Gebäuden zu platzieren. Bei der Sprengung von Bancomaten sei es auch schon zu Verletzungen von Drittpersonen gekommen. Gefährlich wird es nicht zuletzt, wenn Sprengladungen nicht detonieren, aber sich das Bankpersonal an den Geräten ahnungslos an die Arbeit macht. In der Nähe von Hamburg wurden im Dezember zwei Mitarbeiter schwer verletzt, als sie einen mit Sprengstoff präparierten Geldautomaten befüllen wollten.
Der Trend zum vermehrten Einsatz von Sprengstoff hat unter anderem dazu geführt, dass vermehrt die Bundesanwaltschaft (BA) zum Zug kommt: Sobald Sprengstoff im Spiel ist, ist sie für die Strafverfolgung zuständig. Die Ermittlungen erfolgen in diesen Fällen unter Führung des Fedpol durch die Bundeskriminalpolizei, die sich personell allerdings bereits heute am Anschlag befindet. Die Strafverfahren werden dann von der BA geführt. Derzeit befinden sich mehrere Personen in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft, wie die Bundesanwaltschaft auf Anfrage mitteilt.
Zu tun haben es die Fahnder zumeist mit international operierenden Banden, wie der Bundesanwalt Stefan Blättler letzte Woche sagte. Viele Untersuchungen sind deshalb nur via internationale Rechtshilfe möglich, was die Ermittlungen aufwendig und in der Tendenz schwerfällig macht. Die nationale und internationale Zusammenarbeit sei deshalb zentral, so Blättler.
So waren die Schweizer Behörden letztes Jahr an der Aufdeckung einer internationalen Gruppierung in Frankreich beteiligt, die hierzulande zehn Sprengungen verübt haben soll. Zu den dreizehn mutmasslichen Tätern, die die französische Polizei im Spätsommer festgenommen hatte, gehörten französische, russische und niederländische Staatsangehörige. Die Zusammenarbeit zwischen den Behörden aus den verschiedenen Ländern erstreckte sich über mehrere Monate.
Laut Blättler hat sich im Rahmen von anderen Strafverfahren zudem gezeigt, dass es Verbindungen zwischen verschiedenen Fällen und Beschuldigten gibt. Solche Erkenntnisse schlagen sich in der Strafverfolgung nieder: Erstmals geht die Bundesanwaltschaft deshalb nun gegen Beschuldigte einer Bande wegen Verstoss gegen das Verbot von kriminellen und terroristischen Organisationen vor.
Im Ausland geprüft, in der Schweiz durchgeführt
Dazu passen auch Aussagen, die die frühere Fedpol-Chefin Nicoletta della Valle vor einigen Monaten in einem Interview mit der NZZ gemacht hatte: «Wir wissen, dass Bancomat-Sprengungen, die in der Schweiz durchgeführt werden, zuvor im Ausland geübt werden», erklärte sie. Hierzulande hätten die Täter Helfer, die die nötigen Voraussetzungen schüfen, um die Angriffe rasch durchführen zu können.
Tatsächlich zeigen die Beispiele aus Arni und Mörschwil, dass die Sprengung eines Bancomaten nur wenige Minuten dauert. Die Täter hätten deshalb alles geplant und durchgetaktet, so della Valle: «Das sind keine Einzeltäter, sondern organisierte Gruppierungen, die in zahlreichen Ländern aktiv sind und in der Schweiz auf eine vorhandene Infrastruktur zurückgreifen können.»
Im Ausland haben die nicht abreissenden Anschläge mit gefährlichen Sprengstoffen inzwischen zur Lancierung von Gesetzesverschärfungen geführt. So haben das deutsche Bundesinnen- und das Justizministerium im letzten Jahr einen Entwurf vorgelegt, wonach das Herbeiführen von Sprengstoffexplosionen zur Begehung von Diebstählen mit härteren Freiheitsstrafen von bis zu fünfzehn Jahren belegt werden soll. «Eine Geldautomaten-Sprengung etwa an einem Bahnhof oder in einem Einkaufszentrum richtet nicht nur grossen Schaden an, sondern stellt auch eine erhebliche Gefahr für Unbeteiligte dar, sei es für Anwohner oder Passanten», erklärte der Bundesjustizminister Marco Buschmann damals.
Auch in der Schweiz wird der Ruf nach härteren Strafen inzwischen lauter. Der Genfer FDP-Nationalrat Olivier Feller verlangt, dass künftig auch Vorbereitungshandlungen zur Ausführung einer strafbaren Handlung mithilfe von Sprengstoffen oder giftigen Gasen unter Strafe gestellt werden. Im Parlament wurde die Motion noch nicht behandelt, der Bundesrat ist skeptisch, dass dies zum Ziel führt. Tatsächlich erscheint es wahrscheinlicher, dass Bancomat-Sprengungen mit dem Bedeutungsverlust von Bargeld automatisch an Attraktivität verlieren: Von den Niederlanden, wo die Zahl der Geldautomaten innert zehn Jahren von 20 000 auf 5000 zurückging, verlagerten Banden ihr Geschäft einfach nach Deutschland.