Er kommt aus dem Berlin der Revolten und lebt heute als Pensionär zwischen Büchern und Bildern. Ungewollt ist der Musiker, Maler und Autor Thomas Kapielski zum Chronisten seiner Epoche geworden.
«Ein Pfiff wird kommen», tremoliert Thomas Kapielski ins Mikrofon, frei nach dem Schlager von dem Schiff, das kommen wird. Und dann geht es auch schon los. Begleitet von einer E-Gitarre, blasen neun ältere Herren mit aller Atemkraft ihrer Nasen in kleine Flöten. Zwei Stunden lang spielen sie sich durch ein Repertoire von James Last bis Heavy Metal, während rundum die Leute Bier trinken und lautstark zufrieden sind.
Es ist ein Abend in der alten Neuköllner Kneipe Linus, wie es ihn schon vor 33 Jahren hätte geben können. So lange existiert das Oberkreuzberger Nasenflötenorchester schon. Hinter ihren dunklen Sonnenbrillen wirken die alten Herren fast ein bisschen jung. Auf Kapielskis Basecap steht «Börlin». Ein sanfter Spott gegen die Zugezogenen und die Touristen, die kommen und gehen und niemals verstehen werden, was es wirklich auf sich hat mit dieser Stadt. Immer wieder hat sie sich neu erfunden, aber in ihrem Wahrheitskern aus Bier und Schwadronieren ist sie sich auch treu geblieben.
Im «Linus» in Neukölln ist man «entre öng» wie ehedem. Das alte Westberlin gegen das heutige Restberlin, und Thomas Kapielski ist der Chronist und Kronzeuge ganzer Epochen. 72-jährige Lebendmasse. «Lebendmasse» heisst auch sein neues Buch, das gerade bei Suhrkamp erschienen ist. Es ist die in Dialogform geschriebene Autobiografie eines Universalkünstlers, der immer schon alles war und nichts wirklich werden wollte. Kapielski ist Schriftsteller und Musiker, Maler und «Nutzkünstler». Ein Mittelding zwischen «Würde und Quatsch», wie ein Kunsthistoriker einmal anerkennend geschrieben hat.
Nur nichts allzu Offizielles, nichts mit Ehre und Karriere. Immer weiter lesen und in aller Ruhe ein paar Biere trinken, mit «Edeltrödlern, Suffköppen, für die alle am Montag Wochenende war», wie es in «Lebendmasse» heisst. Man ging ins «Leinestübchen», in den «Blauen Affen», das «Yorkschlösschen» oder zum «Hoeck». Martin Kippenberger sass ab und zu mit dabei. Der hat dem Künstlerkollegen Kapielski einmal Geldschulden mit einem Bild abgegolten.
Das Bild hätte er heute gern noch, es wäre viel wert, sagt Kapielski, der Pensionär mit dem knappen Konto, der sein Leben im geistigen Überfluss verbringt. Der die Philosophen auswendig hersagen kann und die Theologen. Der sich in Geografie und Strömungslehre auskennt und alles das in Büchern amalgamiert hat. Sie tragen Titel wie «Bestwerliner Tunkfurm», «Ungares Gulasch», «Sämtliche Gottesbeweise», «Je dickens, destojewski!», «Kotmörtel» oder «Der Einzige und sein Offenbarungseid. Verlust der Mittel».
Klauen, kiffen, kopulieren
Besucht man Thomas Kapielski in seiner Wohnung im Berliner Westend, kann man den Offenbarungseid des Einzelnen gut sehen. Rundum stehen Villen mit verschneiten Trampolinen im Garten, während der Künstler aus einem Wohnblock aus den achtziger Jahren schaut. Die Not des Wohnens hat ihn aus seinen angestammten Vierteln in Kreuzberg und Neukölln hier heraus getrieben. Es wirkt, als sollte ein Satz aus dem Buch «Lebendmasse» auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft werden: «Das Sein verstimmt das Bewusstsein und erschwert das Dasein ohnehin.»
Verstimmt ist Kapielski nur ein bisschen. Er redet von seinem ökologischen Fussabdruck als Rentner, einem Fussabdruck, der immer kleiner wird. Der tägliche Weg führt den Künstler ins nahe «Olympia-Eck», einen Ausschank am Olympiastadion, wo man Taxifahrer-Tilo treffen kann und von einer aus Sibirien stammenden Informatikerin bedient wird.
«Jede Generation macht ihren Quatsch», sagt Kapielski. «Bei uns war’s rumhängen, Bier trinken und Roth-Händle rauchen. Hier rundum bewegen sich die Menschen heute grell gekleidet und rennen. Sie ernähren sich vegetarisch und trinken Rotwein nur zu Weihnachten. Wenn ich so ’n Leben geführt hätte, wär ich schon tot.»
Thomas Kapielski hat ein anderes Leben geführt. Er kennt das Berlin der Revolten und der Verblendungen. Als junger Mann hat er aus der Nähe die Kommune 1 mitbekommen und die «Umherschweifenden Haschrebellen», über die er sagt: «Klauen, kiffen, kopulieren, tanzen. Die sind peu à peu Richtung Mao.» Linksterroristen wurden sie dann auch.
Statt in politische Verbohrtheiten stürzte sich Kapielski ins Studium und auf etwas mirakulöse Art auch in den Zeitgeist. Er wurde mit dem Minimalmusiker Frieder Butzmann bekannt und mit dem Merve-Verlag, bei dem in den achtziger Jahren alles erschien, was junge deutsche Philosophen anhaltend benebeln sollte: Foucault, Deleuze, Baudrillard und Virilio.
Mit dem Merve-Verlegerpaar Peter Gente und Heidi Paris lebte Kapielski in einer Wohngemeinschaft. Dort war er ein V-Mann mit anarchischem Unernst. Die Bücher der französischen Strukturalisten hielt er für verbiesterte Theoriequälerei, also platzierte er sein eigenes Werk sorgfältig neben den «deleuzeianischen Wortdüsternissen». Eines seiner frühen Bücher hiess schlicht «Aqua Botulus», zu Deutsch: «Wurstwasser».
Skepsis statt Pathos
In seiner jetzigen Westend-Wohnung erinnert sich Thomas Kapielski an die Zeiten, in denen Baudrillard, Virilio und Co. gern nach Berlin kamen. «Die wollten wissen, warum die jungen Deutschen wie verrückt an ihren Begriffen herumfummeln.» Ausserdem: «In Paris gab’s ja nix. Keinen Punk und keinen New Wave. Nur den Klub Les Baines Douches.» In Berlin interessierten sich Jean Baudrillard und Paul Virilio für einen Klub ganz besonders. Eine Peep-Show auf der Lietzenburger Strasse. So etwas kannten die noch nicht, und Kapielski musste mit ihnen dahin. Als Baudrillard das Etablissement beschwingt wieder verliess, sagte er: «C’est drôle!»
Es war die Zeit, als manchmal auch der DDR-Dramatiker Heiner Müller am WG-Frühstückstisch sass. Seine Westfreundin hatte da ein Zimmer mit viel zu dünnen Wänden. Der geniale Dichter brachte kubanische Zigarren aus dem Intershop mit und erzählte am liebsten versaute Witze. «Wat weess ick, was mit dem war», sagt Thomas Kapielski. Was mit ihm selber war, hat er nach und nach herausgefunden.
Er hätte ein Werbefuzzi, ein verzauselter Chemiker oder ein beamteter Kunstprofessor werden können. Konkrete Angebote hat es gegeben, aber Kapielski konnte immer Kurs halten. Eine bodenständige Skepsis hat ihn vor dem Pathos bewahrt, Grosskünstler werden zu wollen. Epiphanische Momente beim Bier haben ihm als Erleuchtung genügt. Gegen die sonst wie Erleuchteten entwickelt er eine multifunktionelle Form der Ironie, die immer mit Sprachwitz zu tun hat.
Am Anfang seiner Kunstkarriere hat sich Thomas Kapielski einen Stempel mit den Worten «Det könnwa och!» gemacht. «Der wurde in die Poesiealben reingeknallt, die in den Galerien bei Ausstellungseröffnungen immer aufliegen.» Daraufhin hat sich ein Galerist bei ihm gemeldet, und so ist er in die Kunst gerutscht. Er schuf die «Hochstaffelei», eine mehrere Meter hohe Staffelei. Als die «Neuen Wilden» der deutschen Malerei in den achtziger Jahren wieder sehr gross und sehr deutsch malten, entstand Kapielskis «Ölschinken». Ein grossformatiger, saftiger Schinken in Öl.
«Avantgarde» ist ein Filzpantoffel mit Plastikgebiss vornedran. Das Werk «Drei Künstler, die besser sind als ich!» besteht aus einem versiegelten Briefumschlag in Passepartout und Rahmen. Mit seinen «Sezessionistischen Heizkörperverkleidungen» hat der Künstler genauso Furore gemacht wie mit einer Soziogeografie. An den von Kapielski fotografierten Lampen kann man die Deutschen erkennen. Nichts verschattet ihr Leben nachhaltiger als ihre Bauhaus-Luster.
Inwendige Melancholie
Man kann nicht sagen, dass die Wohnung, die der Künstler mit seiner Frau teilt, radikal anderen Entwürfen folgt. Es steckt eine inwendige Melancholie in den Haushaltsdingen, die von Kapielski-Bildern flankiert werden. Von seinen Versuchen, dem Leben einen Ritus zu geben, erzählt der Künstler in der winterlichen Nachmittagssonne, und es geht dabei zu wie in seinem Buch «Lebendmasse».
Das Grossartige: Vom Hundertsten kann man ins Tausendste kommen. «Vom numinosen Tremor», dem beinahe religiösen Schauder, der Kapielski manchmal befällt, bis zum Thema Geschirrspüler. Odo Marquards Bonum-Malum-Theorie sei doch unbedingt anwendbar auf den Geschirrspüler. Der Fortschritt sei zwar grossartig, aber irgendein Trottel im Haushalt stellt garantiert die Tassen und Gläser verkehrt herum in die Maschine.
Zuverlässig driften im Leben der Menschen Ideal und Realität auseinander, und um das zu beschreiben, ist Kapielski, der grosse Strömungsforscher, da. «Spott ist eine decouvrierende Technik. Damit kann man jeden quasireligiösen Wahnsinn bekämpfen», sagt der Künstler. Aber Achtung: «Heute kann es lebensgefährlich sein, sich über etwas lustig zu machen.» In «Lebendmasse» wird ziemlich vom Leder gezogen über die Linken von einst und heute: «Diese Mischung aus glitschiger Mitfühligkeit und einer geradezu calvinistischen Borniertheit.» Für Kapielski ist das alles nichts: «Selbstverwirklichung, Duzen, multisensibel und Thaiküche.» Duzen ja!, aber mit Kante und im «Olympia-Eck».
Es ist einsam geworden um die noch gar nicht so alten Recken des alten Westberlin. «Fast alle tot», sagt Kapielski. «Die Moribunden und die Penner.» Ab und zu surren noch die Drähte zur Einberufung eines Nasenflötenkonzerts. «Dann geh ich flöten!» Und wenn er irgendwann wirklich flöten geht, so ex und hopp, der Kapielski, was soll dann auf seinem Grabstein stehen? «Macht bloss so weiter!»
Thomas Kapielski: Lebendmasse. Acht längere Unterredungen. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2023. 464 S., Fr. 33.90.