Der ägyptische Staat gibt Unsummen von Geld für Prunk aus. Den Preis für die Prestigeprojekte von Abdelfatah al-Sisi zahlen die Menschen, die ohnehin schon zu kämpfen haben. Inzwischen leben selbst viele, die früher zur Mittelschicht zählten, von der Hand in den Mund.
In einem Dorf im ägyptischen Nildelta bereiten sich Hanadi Fadel und ihr Mann Hamdy auf die Geburt ihres ersten Sohnes vor. Nur noch ein paar Tage, dann soll der kleine Junge zur Welt kommen, in einem Spital im nächsten grösseren Ort. Die künftigen Grosseltern, die Geschwister und Freunde des jungen Paares freuen sich. Doch für Hamdy und seine Frau steht fest: Sie werden nicht mehr lange in ihrem Heimatland bleiben. «In Ägypten», sagt der 30-jährige Hamdy, «hat mein Sohn keine Zukunft.»
Hanadi und Hamdy Fadel sind nicht die Einzigen, die das Land am Nil verlassen wollen. Viele junge Ägypter träumen von einem Leben im Ausland. Denn im bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt sind die Aussichten auf Arbeit, Gesundheit und Wohlstand schlecht. Laut offiziellen Angaben lebt etwa ein Drittel der Ägypter unterhalb der Armutsgrenze. Nach Schätzungen sind es sogar doppelt so viele. Die seit Jahren andauernde schwere Wirtschaftskrise und die Abwertung des ägyptischen Pfundes haben selbst die Mittelschicht verarmen lassen. Die stetig steigenden Preise machen den Ägyptern zu schaffen – auch Hamdy.
Der 30-Jährige heisst eigentlich anders, möchte aber aus Angst vor ägyptischen Sicherheitskräften nicht, dass sein Name veröffentlicht wird. Hamdy gehört zu dem kleineren Teil der Bevölkerung mit einem verlässlichen Einkommen: Als Informatiker programmiert er Apps für eine Firma in Saudiarabien. Mit den umgerechnet 500 Franken, die er im Monat verdient, können er und seine Frau, auch sie hat studiert, sich gerade so über Wasser halten. Was übrig bleibt stecken sie in Englischkurse und eine vertiefte Ausbildung für seine Frau. Falls es mit dem Auswandern doch nicht klappen sollte, möchten die beiden ihr Dorf verlassen und in eine Vorstadt von Kairo ziehen, wo es wenigstens richtige Strassen gibt.
Leben im «Dorf»: kein Spital, keine Kanalisation
Wenn Hamdy von seinem «Dorf» im Nildelta spricht, meint er einen Ort mit etwa 80 000 Einwohnern. Anders als in den Städten sind die Strassen in den meisten ägyptischen Dörfern nicht asphaltiert; in Hamdys Nachbarschaft gibt es nur ein paar kleine Läden, aber keinen Supermarkt, kein Spital und keine Kanalisation. Nur die wenigsten Menschen besitzen ein Auto. Durch die engen Gassen zwischen den unverputzten Häusern bewegen sie sich zu Fuss oder mit Tuk-Tuks. Viele arbeiten auf den Feldern des Deltas – oder verkaufen Tomaten und Auberginen am Strassenrand. Für die meisten ist es ein Leben von der Hand in den Mund.
Ägypten hat schon seit langem mit den Folgen einer schwachen Wirtschaft zu kämpfen. Das Land ist seit Jahrzehnten auf ausländische Kredite angewiesen, um seinen aufgeblähten Militär- und Staatsapparat zu finanzieren. Nach dem Sturz des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi durch einen Militärputsch 2013 übernahm der frühere General Abdelfatah al-Sisi die Macht. Viele Ägypter setzten grosse Hoffnungen in ihn. Sie wünschten sich wirtschaftliche Reformen, Meinungsfreiheit und Mitsprache in der Politik. Doch ihre Hoffnungen wurden enttäuscht: Das Land hat sich unter Sisis Herrschaft in einen Polizeistaat verwandelt und ist auf Milliardenkredite des Internationalen Währungsfonds angewiesen.
Wer kritisch über die politische Lage oder die schwache Wirtschaft spricht, begibt sich in Gefahr: Ein falsches Wort oder ein falscher Post auf Facebook kann zu einer Festnahme führen – und zu jahrelanger Haft ohne Schuldspruch. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen befinden sich Zehntausende politische Häftlinge in ägyptischen Gefängnissen – oft unter menschenunwürdigen Bedingungen. Allein unter Sisi wurden mindestens siebzehn neue Gefängnisse im ganzen Land gebaut.
Das Militär dominiert die ägyptische Wirtschaft
Statt in die Bildung der Bevölkerung zu investieren, für den Ausbau der Industrie zu sorgen und Arbeitsplätze vor allem für die junge Generation zu schaffen, steckt der Autokrat lieber enorme Summen in Prestigeprojekte wie den Ausbau des Suezkanals, die neue administrative Hauptstadt und einen Präsidentenpalast am Mittelmeer. Mit dem Bau werden oft Firmen beauftragt, die zur Armee gehören. Sie dominiert die ägyptische Wirtschaft in vielen Bereichen, schreckt ausländische Investoren ab und macht dem schwachen Privatsektor Konkurrenz.
Allein für den Bau der neuen Hauptstadt wurden ursprünglich 59 Milliarden Dollar veranschlagt. Das Areal in der Wüste zwischen Kairo und dem Roten Meer umfasst das höchste Gebäude Afrikas, Hochschulen und Ministerien, Wohnblocks und grosszügige Villen. Der Bau des Geschäftsviertels wird teilweise von China finanziert. Wenn es nach den Plänen des Präsidenten geht, sollen in der neuen Hauptstadt Millionen Menschen ein Zuhause finden. Doch die meisten Häuser und Wohnungen stehen leer. Denn an den Bedürfnissen der Bevölkerung geht der Bauboom der Regierung vorbei: Kaum einer kann sich eine Neubauwohnung leisten oder will weit entfernt von seiner Arbeit leben.
Umm Mohammed ist froh, dass sie überhaupt eine Bleibe hat. Die Mittfünfzigerin, die eigentlich anders heisst, wohnt mit ihrer Familie in einem heruntergekommenen Reihenhäuschen direkt neben ihrem Arbeitsplatz: dem Markt von Imbaba. Das Stadtviertel gehört zu den ärmeren von Kairo. Männer und Frauen verkaufen hier kiloweise Tomaten, Auberginen und Zucchini aus dem Nildelta. Das Obst und das Gemüse auf den Holzständen haben nicht die beste Qualität. Dafür sind die Preise hier niedriger als im Supermarkt.
Kinderreichtum gilt als gute Altersversicherung
Hinter einem Berg Mandarinen packen fünf junge Frauen die Früchte in dünne Plastiktüten. 20 ägyptische Pfund kosten sie pro Kilo – mehr als doppelt so viel wie noch vor zwei Jahren. Alles werde teurer, sagt Umm Mohammed: der Dünger, der Treibstoff, die Transportkosten. «Die Gründe dafür? Danach dürfen wir nicht fragen», sagt sie und kreuzt ihre Handgelenke, als sei sie gefesselt. Neben ihr spielen ein paar Kleinkinder in zerschlissener Kleidung, ein Baby schläft auf einer Ablage. Umm Mohammed ist Mutter von neun Kindern und hat 25 Enkel. «Eine gute Hilfe», sagt sie. Auf Unterstützung vom Staat können sich nicht einmal die Ärmsten verlassen.
Jedes Jahr wächst die ägyptische Bevölkerung um mehr als zwei Millionen Menschen. Hatte das Land 2005 noch etwa 70 Millionen Einwohner, sind es heute mehr als 110 Millionen. In Kairo drängen sie sich auf den Strassen und in den Schulen, in den Minibussen und in der Metro, in den Behörden, auf der Bank, im Kino und im Spital. Dabei haben nur die wenigsten eine Krankenversicherung. Viele Ägypter können sich nicht einmal den Besuch beim Arzt leisten.
So geht es auch Faruk Abdel Masih. Der 82-Jährige lebt in einem Altersheim in Shubra nördlich von Kairo. Weil er Arthrose in beiden Knien hat, kann er sich nur schlecht bewegen. Ein Drittel seiner Rente, sagt der ehemalige Chemieingenieur, gebe er für Medikamente aus. Doch wegen der steigenden Preise reicht das Geld dafür nicht mehr aus. Deshalb nimmt er seine Tabletten mittlerweile nur noch jeden zweiten Tag. Ein paar Rechnungen könnte er zwar erstattet bekommen, aber wegen seiner Unbeweglichkeit ist ihm der Aufwand zu hoch.
Eine Krankenversicherung haben die wenigsten
Einer, der Masih entgegenkommt, ist sein Apotheker. Masih darf bei ihm in Raten zahlen und bekommt zehn Prozent Rabatt auf die Medikamente. Seinem Kunden zuliebe verzichtet Ibram Marcus auf die Hälfte seiner schmalen Gewinnmarge. Der Pharmazeut betreibt eine Apotheke in Masihs Nachbarschaft und berät die Menschen, die sich keinen Arztbesuch leisten können. Obwohl auch Marcus nicht zu den Wohlhabenden gehört, nimmt er Rücksicht auf das knappe Portemonnaie seiner Kunden und gewährt Rabatte, wo er kann. «Man kann doch nicht Nein sagen, wenn man die Not der Menschen sieht», sagt er.
So viel Glück wie Faruk Abdel Masih haben nur wenige. Viele Menschen in Ägypten sind auf Almosen angewiesen. Im Fenster eines Restaurants im Stadtteil Sheikh Zayed hängt ein Schild, das Menschen ohne Geld zum Essen einlädt: Wer die beliebten ägyptischen Bohnengerichte Foul und Taameya und das gebackene Gemüse nicht bezahlen kann, muss nur dem Kassierer Bescheid sagen und bekommt eine Portion geschenkt. Im Laufe eines Vormittags reihen sich etwa zwanzig Rentner, Schuhputzer und Strassenwischer aus der Umgebung diskret in die Schlange ein.
Das Restaurant gehört zwei Brüdern aus Fayoum, einem Ort etwa hundert Kilometer südlich von Kairo. Die beiden gläubigen Muslime, die einige Jahre in Saudiarabien gearbeitet haben, sehen es als ihre Pflicht an, Bedürftigen zu helfen – so, wie es der Koran vorschreibt. Demnach sind Muslime verpflichtet, einen bestimmten Anteil ihres Besitzes an Bedürftige abzugeben. Die Zakat, wie die Abgabe genannt wird, bildet eine der fünf Säulen des Islam – und ist für viele Menschen in Ägypten mittlerweile überlebenswichtig.
Viel Hoffnung, dass sich ihre Situation verbessert, haben die Ägypter nicht. Nach mehr als zehn Jahren unter Sisis Herrschaft ist klar, dass in Ägypten längst wieder das Militär regiert. Auch wenn das Ende von Sisis letzter Amtszeit im Jahr 2030 bereits in Sicht ist: Viel Zeit, darüber nachzudenken, was dann kommt, haben die Ägypter nicht. Die meisten brauchen ihre ganze Energie, um den Alltag zu bewältigen.