In «Julia & Romeo» krempeln zwei Choreografinnen aus Island die berühmteste Liebesgeschichte des Theaters um. Die geänderte Reihenfolge der Namen deutet es an: Hier bleibt kein Stein auf dem anderen. Dennoch ist der Jubel am Ende gross.
Wer kein Blut sehen kann, sollte diesen Abend vielleicht besser meiden. Es gibt nämlich reichlich davon – weit mehr als sonst auf der Tanztheaterbühne üblich. Und dazu Heavy-Metal-Klänge. Für ihr mutiges Tanzspektakel «Julia & Romeo» nehmen die beiden isländischen Choreografinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir am Theater Basel die Gewalt und die latente Grausamkeit in Shakespeares berühmtem Liebesdrama in den Fokus. Das Ergebnis ist nichts für Zartbesaitete.
Vor der Pause geht es zunächst noch harmlos komödiantisch zu. Aber das ist die Ruhe vor dem Sturm und womöglich ein Trick, um die Zuschauer in Sicherheit zu wiegen. Umso heftiger wirkt der Teil nach der Pause: Hier entsteht auf der mit Plastikfolie ausgelegten Bühne eine blutige Performance, die an die wilden Auftritte der Wiener Aktionskünstler aus der rebellierenden 1968er Generation und das «Orgien-Mysterien-Theater» von Hermann Nitsch erinnert. Am Boden hockende Paare übergiessen sich mit Eimern voller Theaterblut. Wie eklig, denkt man unwillkürlich – das Ganze erinnert an einen Schlachthof.
Dass das Theater Basel diese radikale Tanz-Performance ausgerechnet zur Vorweihnachtszeit herausbringt, erscheint kühn und vielleicht auch etwas weltvergessen. Schliesslich könnten sich gerade während dieser Wochen Ballettfreunde ins Theater verirren, die eher auf einen klassischen Abend oder einen Augenschmaus à la John Cranko hoffen. Hier freilich vergeblich: «Julia & Romeo» ist sowohl für die Darstellenden eine Herausforderung wie auch für das Publikum. Und die vom Theater ausgegebene Altersempfehlung «ab 16 Jahren» hat durchaus eine Berechtigung.
Ein fluides Liebeskollektiv
Die Choreografinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir nennen ihre Methode im Programmheft mehr oder weniger scherzhaft einen «Ballett-Exorzismus». Tatsächlich nehmen sie der Ballettkunst die manchmal allzu glatte ästhetische Oberfläche. Die choreografische Uraufführung ihres Stücks fand im November 2018 am Münchner Gärtnerplatztheater statt. Seither lässt der Stoff die beiden nicht mehr los. Für Basel wurde «Julia & Romeo» nun in einer Neufassung erarbeitet. Aus der Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern ist eine ungemein jugendliche, dabei sehr authentisch wirkende Version entstanden. Und trotz Blut, Schweiss und Tränen vermag sie mit einem tiefen Blick in die Seele auch anzurühren und am Ende zu begeistern.
Die Version von Ómarsdóttir und Ólafsdóttir heisst nicht ohne Grund «Julia & Romeo». Indem sie die Namen der Protagonisten im Titel umdrehen, nähern sich die Choreografinnen der Handlung aus der weiblichen Perspektive. Ab und zu wird im Tanz zitathaft ein Ballettschritt oder eine zierliche Pose angedeutet, doch die tänzerischen Attitüden und damit auch die Stereotypen der Geschlechterbilder sind aufgehoben.
Wer hier welche Rolle tanzt, unterliegt dem ständigen Wandel. Die Paare bestehen aus Frau und Mann, Frau und Frau oder Mann und Mann. Darin manifestiert sich der Zeitgeist, aber auf spielerische Weise. Die kraftvollen Ensembletänze zum Fest im Hause Capulet wiederum sind synchron und martialisch angelegt und bilden einen spannenden Kontrast zur überwiegenden Lockerheit der Figuren. «Julia & Romeo» ist sozusagen ein fluides Liebeskollektiv.
Rebellion und Schrei
Vielleicht muss man von den Rändern Europas kommen, um so etwas an einem derart ikonischen Ballettwerk auszuprobieren. In Island gebe es keine lange Geschichte des Tanzes, was den Druck, eine Tradition zu ehren, eindeutig verringere, meinen die Choreografinnen. Stattdessen besteht dort aber eine grosse Tradition des Geschichtenerzählens, und das passt ohne Frage zu William Shakespeare. Im Prolog bevölkern die Tänzerinnen und Tänzer in einer Art Wimmelbild die Bühne, sie reihen sich vorne an der Rampe auf und erzählen von ihrem «ersten Mal» mit dem Ballettklassiker «Romeo und Julia». Früher tanzten sie Nebenrollen, jetzt dürfen alle Romeo sein – auch die Frauen.
Dafür mussten einige von ihnen lernen, auf E-Gitarren zu spielen, um der jugendlichen Rebellion in den Musikarrangements von Valdimar Jóhannsson lautstark Ausdruck zu verleihen. Und die Tanzenden präsentieren sich nicht nur beim elektrischen Gitarrensolo in ihrer ganzen Körperlichkeit – nichts ist ihnen zu wuchtig oder zu hässlich. Sie springen, zucken, kriechen über die Bühne. Das Stück räumt überdies mit dem Klischee der stummen Tänzer auf, es verleiht ihnen eine Stimme. Sie atmen laut und rhythmisch, sie rufen und schreien durcheinander. Ihre Körper werden zum Instrument – und zum Klangkörper.
Getanzt wird zu Sergei Prokofjews Ballettmusik, sie kommt vom Tonband, ist aber zu einigen wiedererkennbaren Highlights eingedampft worden. Prokofjews Melodien werden auch (nach)gesungen, von den Tanzenden selbst und von der stimmgewaltigen Sängerin Sofia Jernberg. Auf diese Weise hört man auch diese berühmte Ballettmusik für einmal ganz anders und kann neu erleben, wie viel rhythmische Gewalt und unerfüllte Sehnsucht in ihr steckt.
Als poppiges Symbol der Liebe ist dazu das Herz in Form von pinkfarbenen Neonröhren und als monströse Bettstatt allgegenwärtig. Am Ende sterben alle und gehen in den Wellen eines auf den Vorhang projizierten Videofilms baden, um danach in wallenden Gewändern wieder zu erscheinen. Rituelle Wiedergeburt oder «Forever young» – so könnte das Fazit dieses kollektiven Liebestaumels lauten.
Gewagt und gewonnen
Mit der engagierten Produktion wird das Ballett Basel zum Sympathieträger. Die Truppe agiert nicht nur virtuos, sondern singt, hechelt, stöhnt und schreit sich beherzt und bravourös durch den Abend. Rebellion und Schrei als befreiende Therapie – dieser Impuls überträgt sich beim Schlussapplaus offensichtlich auch ein wenig auf das Publikum. Jedenfalls erntet der Premierenabend ungeachtet all der blutigen Zumutungen eine erstaunliche Zustimmung und Begeisterung.
Vielleicht wird das Stück als Aufreger, sicher aber als wichtigster Coup in der kurzen Amtszeit von Adolphe Binder in Erinnerung blieben. Das Engagement der Leiterin der Basler Tanzsparte geht im nächsten Sommer nach nur zwei Jahren zu Ende. Binders Versuch, mit zeitgenössischen Performances und der Verschmelzung von Bewegung, Kunst und Stimme eine Neuausrichtung der Tanzsparte anzuregen, ist beim Publikum bislang nur bedingt auf Gegenliebe gestossen. Mit dem isländischen Choreografinnen-Duo Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir hat Binder nun jedoch einen Glücksgriff getan, sie hat viel gewagt – und am Ende gewonnen.