Trump oder Biden, wer wird als amerikanischer Präsident im Herbst gewählt? Die Umfragen messen ständig, wer wo die Nase vorn hat. Das sollte man zur amerikanischen Umfrageindustrie wissen.
Sie sorgen regelmässig für Schlagzeilen, nicht nur in den USA, aber dort besonders. Umfragen sind fester Bestandteil des amerikanischen Politikbetriebes. Die Umfrageindustrie setzt gemäss Schätzungen weltweit rund 8 Milliarden Dollar jährlich um. Und sie soll weiter wachsen: Bis 2028, so schätzt es die Business Research Company, sollen es gar 9,5 Milliarden sein. Der grösste Teil des Umsatzes wird dabei in Nordamerika erzielt, der zweitgrösste in Europa.
Der Umfrageforscher G. Elliott Morris rechnet dieses Jahr mit mehr als 1500 Umfragen zu den Wahlen in den USA. Alle grossen amerikanischen Zeitungen und Fernsehstationen geben Umfragen in Auftrag.
Für besonderen Wirbel gesorgt hat letzte Woche eine Umfrage der «New York Times», die die Zeitung zusammen mit dem Siena College durchführte: Acht Monate vor den Wahlen, so die Zeitung, halten 47 Prozent der befragten registrierten Wähler Joe Biden als dezidiert zu alt für einen amerikanischen Präsidenten. Nur 21 Prozent finden das dagegen bei Donald Trump. Im Vergleich zu der «Times»/Siena-Umfrage vom November, die schon damals grosse Wellen geschlagen hatte, hat sich die Skepsis gegenüber Bidens Alter bestätigt. Biden wird dieses Jahr 82 Jahre alt.
Joe Bidens Alter gilt als einer der Gründe, weshalb seine Zustimmungswerte vergleichsweise tief sind. Im Schnitt sind nur gerade 38 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner mit der Leistung von Präsident Biden zufrieden. Auch andere Präsidenten hatten ein Umfragetief im Jahr ihrer Kandidatur zur Wiederwahl. Barack Obama lag gemäss einem Vergleich von NBC News Polls zu diesem Zeitpunkt in der Präsidentschaft bei 48 Prozent, Bill Clinton bei 46 Prozent. Noch unbeliebter als Joe Biden waren in den letzten 25 Jahren Donald Trump nach dem Sturm auf das Capitol und George W. Bush. Bushs Umfragewerte fielen unter anderem wegen der gescheiterten Irak-Invasion fast ins Bodenlose.
Die Resultate der vier neuesten Umfragen zeigen alle dasselbe Bild: Donald Trump ist Joe Biden nicht nur auf den Fersen, sondern hat ihn bereits überholt. Bei der Umfrage des «Wall Street Journal» und von Fox News liegt Trump landesweit 2 Prozentpunkte vor Biden. Bei CBS News sind es gar 4 Prozentpunkte (52 zu 48 Prozent). Im Durchschnitt aller Umfragen liegt Trump 2 Prozentpunkte vorn.
Gerade die jüngste Umfrage der eher links positionierten Zeitung «New York Times» (Biden: 43 Prozent; Trump 48 Prozent) müsste Joe Biden und seine Wahlkampfmanager eigentlich in grössere Aufregung versetzen, weil das Resultat gemäss der Statistiker des Siena College ausserhalb des statistischen Fehlerbereichs liegt. Zudem hat diese Umfrage ergeben, dass Trump bei Erstwählern vor Biden liegt, bei den weissen Frauen und bei Amerikanern mit lateinamerikanischen Wurzeln. Auch bei den Schwarzen hat Trump kräftig aufgeholt. Das alles sind Gruppen, die sonst tendenziell demokratisch wählen.
Noch besorgniserregender am Resultat für die Biden-Kampagne ist, dass gemäss der «Times»/Siena-Befragung 9 Prozent jener, die 2020 für Biden stimmten, nun Trump wählen wollen. Das wird als Zeichen dafür gewertet, dass Joe Bidens breite Koalition, die ihn im Herbst 2020 ins Weisse Haus trug, am Bröckeln ist. Laut dem konservativen Online-Magazin «Dispatch» hat in der jüngeren amerikanischen Geschichte erst einmal ein amtierender Präsident Wähler verloren und trotzdem einen zweiten Wahlsieg eingefahren: Barack Obama 2012.
Bis im November wird noch manche Umfrage veröffentlicht werden. Joe Biden hat inzwischen im Kongress eine kämpferische Rede zur Lage der Nation gehalten, in der er vitaler wirkte als bei anderen Auftritten. Gut möglich, dass das einen Einfluss haben wird auf seine Zustimmungswerte. Umfragen sind immer auch Momentaufnahmen, das sollte man bei der Interpretation der Resultate im Hinterkopf behalten.
Die amerikanische Umfrageindustrie gilt als hochprofessionell und ist weltweit tonangebend. Die Politik-Website Fivethirtyeight, gegründet vom Umfrage-Experten Nate Silver, listet die 270 wichtigsten Institute auf und bewertet ihre Methoden nach Genauigkeit und Transparenz. Obenaus schwingen die Umfragen der «New York Times» und des Siena College, des Fernsehsenders ABC News und von «The Washington Post». Auch die Umfragen der Marquette University Law School erreichen Topnoten.
Fivethirtyeight gewichtet die Umfragen und kalkuliert daraus einen Durchschnittswert und eine Gewinnwahrscheinlichkeit für Politiker. Die Plattform konnte in der Vergangenheit Wahlresultate so genau voraussagen wie niemand sonst. Inzwischen gehört sie zu ABC News, und Nate Silver ist nicht mehr an Bord. Der Statistiker und ambitionierte Pokerspieler, der zuerst Baseballdaten analysierte und erst später anfing, Politikumfragen zu bewerten, teilt seine Gedanken inzwischen über einen kostenpflichtigen Newsletter mit.
Auch die Konkurrenzplattform Realclearpolitics bewertet die Institute und bietet eine Umfrage-Aggregation an. Die Methodik ist hier rudimentärer. Die Idee hinter der Aggregation: Mögliche Messfehler gleichen sich über eine grosse Zahl von Umfragen aus.
In der Theorie sind Meinungsumfragen ein bestechend einfaches Konzept: Es braucht nur eine zufällig ausgewählte Stichprobe von Personen, die über ihre Wahlabsicht Auskunft geben – und schon können Demoskopen daraus mit einer gewissen statistischen Unschärfe auf die gesamte Wählerschaft schliessen. Mit der fortschreitenden Digitalisierung wird es jedoch immer schwieriger, an eine wirklich repräsentative Stichprobe zu gelangen. Früher riefen die Befrager einfach zufällig generierte Festnetznummern an und konnten so die Repräsentativität sicherstellen. Doch wer hat heute noch einen Festnetzanschluss?
Inzwischen rufen die Befrager Handynummern an, kontaktieren Personen per Textnachricht oder versuchen, sie online zur Beantwortung eines Fragebogens zu bewegen. Die Erfahrungen in den USA, aber auch im deutschsprachigen Raum zeigen, dass solche Online-Umfragen ebenso gut sein können wie klassische Telefonbefragungen. Als Faustregel gilt allerdings: Weist ein Anbieter die Details zu seiner Umfrage nicht transparent aus, ist Vorsicht geboten.
Es grenzt für Laien schon fast an Magie, wie Umfrage-Experten und Statistiker aufgrund eines Samples von rund tausend Befragten eine repräsentative Studie erstellen. Das Stichwort heisst hier: Gewichtung. So wird die Meinung von jüngeren und progressiveren Frauen, die beispielsweise seltener an Online-Umfragen teilnehmen, mit einem gewissen Schlüssel multipliziert. Die Angaben konservativer Männer, die bei Befragungen oft überrepräsentiert sind, werden dagegen abgeschwächt. Diese Gewichtung kann aber auch schiefgehen, wenn wichtige Faktoren nicht berücksichtigt werden.
In der Regel sind die Umfragen mit einer statistischen Unschärfe von ±2 bis 3 Prozentpunkten behaftet, je nachdem, wie viele Menschen befragt wurden. Es handelt sich jedoch um Momentaufnahmen, nicht um Prognosen für den Wahltag. Eine Studie von amerikanischen Politikwissenschaftern zeigte etwa, dass selbst Umfragen kurz vor der Wahl eher um ±7 Prozentpunkte vom effektiven Resultat abweichen als um ±3 Prozentpunkte.
Die Umfragen haben in der Vergangenheit aber auch systematische Verzerrungen aufgewiesen. 2016 wurde Trump unterschätzt, bei den bisherigen Vorwahlen 2024 überschätzten die Umfrageinstitute seine Popularität.
Was bei nationalen Umfragen in den USA unbedingt beachtet werden muss: Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen werden in wenigen Swing States entschieden. Deshalb haben nationale Umfragen nur bedingt Aussagekraft. Zu den Swing States gehören Gliedstaaten wie Arizona, das Joe Biden 2020 äusserst knapp für sich gewinnen konnte, oder Michigan.
In Michigan leben viele arabischstämmige Amerikaner. Für viele von ihnen ist das Agieren des Präsidenten im Gaza-Krieg mitentscheidend, ob sie ihm im Herbst die Stimme geben oder aus Protest zu Hause bleiben. Das Wahlresultat wird letztlich stark davon beeinflusst, wie viele Personen sich tatsächlich dazu entschliessen, an den Wahlen teilzunehmen. Vor allem Joe Biden könnte von einer hohen Beteiligung wie 2020 voraussichtlich profitieren.
Der «Cook Political Report» schätzt laufend ein, zu welchem Lager welcher Gliedstaat gezählt werden kann. Bis anhin zeichnet sich in den Swing States noch keine klare Tendenz ab, auch wenn andere Befragungen das Gegenteil behaupten. Egal, welchen Experten man fragt: Das Resultat könnte wieder äusserst knapp werden.
Dass man trotz dieser Flut an Umfragen und der starken Professionalisierung danebenliegen kann, hat die Präsidentschaftswahl 2016 gezeigt. Damals wurde Hillary Clinton in den Umfragen als Favoritin gesehen, die Überraschung und die Häme nach dem Trump-Sieg waren umso grösser. Die Umfragen lagen nicht viel daneben, doch es reichte, um eine falsche Prognose abzugeben.
Der Grund für die Fehleinschätzung lag vor allem darin, dass die Beteiligung von Trump-Unterstützern in gewissen Swing States viel grösser war als angenommen. Trump-Wähler sind für die Demoskopen eine Herausforderung. Viele von ihnen boykottieren Umfragen. Und auch Trump hat sich mehrmals abschätzig über die Umfragebranche geäussert. In Wisconsin etwa, das 2016 zentral für Trumps Sieg war, lag Hillary Clinton in den Umfragen mit 46 Prozent vor Trump mit 40 Prozent. Am Ende siegte Trump aber mit 47,2 vor Clinton mit 46,5 Prozent der Stimmen.
Seither sind die Umfrageinstitute über die Bücher gegangen und gewichten ihre Umfragen anders. Sie berücksichtigen beispielsweise den Bildungsstand der Befragten stärker. Dieser war 2016 ein besonders wichtiger Indikator dafür, ob jemand Trump wählte oder nicht.
Nikki Haley ist das jüngste Beispiel: Sie hat ihren Wahlkampf in den republikanischen Vorwahlen bis zum Super Tuesday weitergeführt, obwohl ihr nur Niederlagen vorhergesagt wurden. Ihre Wahlergebnisse waren dann auch niederschmetternd – aber teilweise dennoch deutlich besser, als es die Umfragen vorhergesagt hatten.
Auch die Demokraten halten an der erneuten Kandidatur von Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris fest, obschon deren Beliebtheitswerte im Sinkflug sind. Weshalb? Die kürzestmögliche Antwort: Es braucht Zeit, einen politischen Dampfer in eine andere Richtung zu steuern. Im Fall Biden ist es schlicht zu spät.
Im Kleinen ist aber doch sichtbar, wie die Biden-Kampagne auf Umfragen reagiert. Seit Meinungsumfragen deutlich gemacht haben, dass die Migration das Thema ist, das die Amerikaner zurzeit am meisten umtreibt, nimmt der Präsident das Thema auf und verspricht nicht nur Lösungen, sondern legt Gesetze vor – bis anhin allerdings ohne Erfolg. Auch kann gut beobachtet werden, dass das Biden-Team versucht, den Präsidenten möglichst vorteilhaft zu inszenieren, damit er «weniger alt» erscheint.
Gelegentlich werden die Umfrageresultate auch gezielt heruntergespielt. Die demokratische Kongressabgeordnete aus Michigan, Debbie Dingell, zerstreut die Befürchtung, dass Biden im Gliedstaat die Wahl verlieren könnte, indem sie sagt: In Michigan seien schon viele Umfragen danebengelegen. Im Hintergrund, vor allem in den Swing States, laufen die Drähte nach schlechten Umfragen aber sicherlich heisser, als die Wahlstrategen gerne zugeben. Schliesslich investieren die Kampagnen Millionen, um die Wählergunst zu beeinflussen. Umfragen zeigen ihnen, ob das Geld richtig investiert worden ist.