Im chinesischen Bürgerkrieg fällt die verwöhnte Grundbesitzertochter Hua Manyue tief. Die Sucht nach dem Glücksspiel Mah-Jongg reisst sie ins Verderben. Doch die eigentliche Katastrophe sind die Exzesse des Maoismus. Von ihnen erzählt Fang Fangs Roman «Blume Vollmond».
Am 25. Januar 2020 begann die chinesische Schriftstellerin Fang Fang, ein Tagebuch über ihre abgeriegelte Heimatstadt Wuhan zu führen, den Ort, von dem die globale Corona-Pandemie ihren Ausgang nahm. Die Chronistin formulierte ihre Ängste und Hoffnungen in Echtzeit, während in der Neun-Millionen-Metropole um sie herum Freunde und Nachbarn starben. Im Ausland wurde «Wuhan Diary» ein Bestseller. In China brachte die moderate Kritik an der mangelhaften Krisenbewältigung der Autorin nachhaltige Probleme ein.
Schon Fangs 2016 erschienener Roman «Weiches Begräbnis» (deutsch 2021), zunächst mit Buchpreisen dekoriert, hatte ein paar Jahre nach seiner Publikation den Zorn neomaoistischer Gruppen auf sich gezogen – sein Titel verweist auf die kommunistische Praxis, politische Gegner ohne Sarg zu beerdigen. Das Buch über die blutige Bodenreform, einen Gründungsmythos der Volksrepublik China, wurde von Fanatikern im Mao-Sprech als «Giftpflanze» gebrandmarkt. Mit dem Wuhan-Tagebuch verschärfte sich die Lage noch. Fang wurde als «Landesverräterin» beschimpft. Seither unterliegt die Autorin einem faktischen Publikationsverbot.
Das neue Regime bleibt
Die Anfangsszene von «Blume Vollmond» zeigt Hua Manyue (chinesisch für «Blume Vollmond»), eine Tochter aus reichem Hause, beim Mah-Jongg in einer Spielhölle. Es herrscht Bürgerkrieg. Die Volksbefreiungsarmee durchkämmt die Stadt, um die verhasste «Ausbeuterklasse» aufzuspüren. Ihr Diener Wang Vier, ein Rikscha-Kuli, fleht das «gnädige Fräulein» an, mit ihm zum Hafen zu fahren, wo ihre Familie gerade das Schiff zur Ausreise besteigt. Doch die junge Frau kann sich nicht vom Spieltisch lösen.
Allein in der Stadt zurückgeblieben, findet Hua Manyue unter falschem Namen Unterschlupf bei Wang Vier und dessen Mutter im Armenviertel. Noch erwarten diese, dass die Kommunisten bald wieder abziehen und sie als Retter der jungen Frau belohnt werden. Doch die Jahre vergehen, und das neue Regime bleibt – ebenso wie die panische Angst, entdeckt zu werden.
Währenddessen rollt die Terrorwalze der Massenkampagnen mit Dutzenden Millionen Opfern über das Land, von der Bodenreform (1948–1951) über den «Grossen Sprung nach vorn» (1958–1961) bis zur Kulturrevolution (1966–1976). Dem kleinen Unterstützerkreis Hua Manyues ergeht es wie den meisten Chinesen. Sie erdulden ihr kollektives Schicksal und fallen in eine Art Überlebensmodus.
Wo die Gesellschaft geknebelt und eine individuelle Wahl kaum mehr möglich ist, entfaltet auch «Blume Vollmond» keine grossen Seelentableaus. Selbst über das Innenleben der notorisch eigensüchtigen Hua Manyue, die ihren ehemaligen Diener irgendwann notgedrungen heiratet, erfährt man wenig. Alle sind kalt und verschlossen. Überall droht Denunziation. Sogar Hua Manyues Sohn Fuhua, ein junger Rotgardist, erwägt, seine allzu lieblose Mutter bei den Behörden zu melden.
Als Greisin, nach der 1978 begonnenen «Politik der Öffnung und Reform» Deng Xiaopings, bekommt Hua Manyue noch eine überraschende Chance, dem Elend zu entkommen. Doch die Gier nach Mah-Jongg, das Spielen um Geld, hängt wie ein Fluch über ihr.
Beharren auf dem Eigensinn
Natürlich sind die Rollen in «Blume Vollmond» recht stereotyp verteilt – die eigennützige Ausbeuterin gegen den zumindest minimal empathischen ehemaligen Diener, einen Proletarier. Doch Fang Fang stemmt sich hier ein weiteres Mal mutig gegen das Schweigen über die monströsen Gesellschaftsexperimente der chinesischen Geschichte.
Bis heute werden deren Verbrechen systematisch verschleiert. Für die dramatische Hungersnot während des «Grossen Sprungs nach vorn» habe sich die Bezeichnung «Drei Jahre der Naturkatastrophen» eingebürgert, schreibt der Übersetzer Michael Kahn-Ackermann in seinem informativen Nachwort – obwohl der Hunger durch gigantische Fehlplanungen verursacht wurde und es keine nennenswerten Naturkatastrophen gab.
Schon in früheren Romanen buchstabierte Fang Geschichte an einem Frauenleben aus. Tatsächlich ist die abgrundtiefe Frauenverachtung der Gesellschaft das Erschütterndste an diesem zutiefst pessimistischen Roman. Das eindrücklichste Symbol dafür ist der stechende Geruch der deformierten «Lotusfüsse» von Wang Viers Mutter, mit der sich die junge Hua Manyue eine Zeitlang das Bett teilen muss.
Hat der Maoismus an der Lage der Frau etwas verändert? Im Roman erklärt ein Beamter stolz: «Wir haben die neue Gesellschaft, Kindsbräute gibt es nicht mehr.» Für die Angehörigen der «Klassenfeinde» gilt so viel Rücksichtnahme nicht. Während der Bodenreform werden die Töchter von «Rechtsabweichlern» aufs Dorf zwangsverheiratet, wo das Leben noch härter ist als in der Stadt. «Proletarische» Frauen haben es jedoch kaum besser. Auch sie müssen Männern jederzeit sexuell zur Verfügung stehen. Sollten sie «hässlich» sein, trifft sie deren Verachtung.
Bei aller «Charakterschwäche» Hua Manyues hat Fang Fang mit ihrer Antiheldin doch etwas gemeinsam: den Eigensinn. Aus dem Umkreis der Schriftstellerin ist zu hören, dass sie ständiger Überwachung ausgesetzt ist. Die soziale Isolation macht ihr zu schaffen. Dennoch will Fang in China bleiben: Sie beharrt darauf, eine Patriotin zu sein.
Fang Fang: Blume Vollmond. Roman. Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2025. 176 S., Fr. 24.90.