Sie war unermüdlich kreativ, bescheiden, aber unbeugsam: Seit 1991 lebte die russisch-tatarische Komponistin Sofia Gubaidulina im Exil in Deutschland. Jetzt ist sie im Alter von 93 Jahren gestorben.
Bereits als junges Mädchen sei sie ihren eigenen musikalischen Vorstellungen gefolgt, so erzählte Sofia Gubaidulina. «Ich habe immer gern zu Hause bei unserem Klavier den Deckel geöffnet und auf den Saiten improvisiert. Natürlich ohne dass die Lehrer das wussten!» Was die junge Sofia zu dem Zeitpunkt selbst nicht wusste: In dieser kindlichen Entdeckungslust offenbarte sich früh ein zentraler Wesenszug, der das spätere Schaffen der tatarisch-russischen, 1931 in Tschistopol geborenen Komponistin tief prägen sollte.
Die unermüdliche Neugier und Gubaidulinas feines Gespür für klangliche Experimente jenseits der etablierten Hörerfahrungen lassen sich unter anderem an ihrer Vorliebe für ungewöhnliche Instrumentenkombinationen ablesen. Dieses Faible kennzeichnet einen Grossteil ihres Œuvres, angefangen bei den «Fünf Etüden» für Harfe, Kontrabass und Schlagzeug aus dem Jahr 1965 bis hin zur 2004 entstandenen «Verwandlung» für Posaune, Saxofonquartett, Violoncello, Kontrabass und Tamtam. Solche neuen, mitunter exotisch wirkenden Partnerschaften waren freilich immer sorgsam herbeigelauscht.
Bei Auftritten der Improvisationsgruppe «Astraea» konnten die Zuschauer erleben, wie sich Gubaidulina und ihre Mitstreiter hörend in fremde Klangwelten seltener kaukasischer und fernöstlicher Instrumente vertieften und sich darin verloren. Mitunter, so die Komponistin, habe sie sogar ein persönliches Verhältnis zu den Instrumenten entwickelt, die auf sie reagierten und ihr antworteten.
Religiös motivierte Musikauffassung
Gubaidulinas sensibles Tasten nach neuen Klängen korrespondierte mit einer spirituellen, stark religiös motivierten Lebens- und Musikauffassung. Sie schlug sich besonders eindrücklich in ihrem monumentalen Diptychon «Johannes-Passion» und «Johannes-Ostern» aus den Jahren 2000 bis 2002 nieder. Zugleich sind ihre Kompositionen von einem fein ausdifferenzierten Netz motivischer, rhythmischer und formaler Beziehungen durchwoben und zusammengehalten. Nicht ohne Grund sah Gubaidulina Dmitri Schostakowitsch und Anton Webern als prägende Vorbilder an.
Das für ihr Schaffen charakteristische Miteinander von konstruktiver Strenge und menschlich-religiöser Expressivität zeigt sich beispielhaft im 1980 entstandenen Violinkonzert mit dem Titel «Offertorium»: Gubaidulina verwendete hier Anspielungen an die Musik der Vergangenheit – indem sie etwa das Thema aus Bachs «Musikalischem Opfer» als Hauptmaterial wählte und auch Bergs Violinkonzert aufscheinen liess; zugleich fand sie aber eine zwingende formale Disposition, die den Werkbeginn zum Ende hin radialsymmetrisch aufgreift.
Die Wiener Uraufführung des Stücks durch den Geiger und Widmungsträger Gidon Kremer bescherte der Komponistin im Jahr 1981 endgültig den internationalen Durchbruch, nachdem sie schon zuvor in Westeuropa einige Erfolge hatte feiern können. Den Kulturpolitikern in der Sowjetunion hingegen erschien sie der «formalistischen Geheimbündlerei» verdächtig – was sie lange Zeit zu einer offiziell geächteten und vielzensierten Aussenseiterin machte, die ihren Lebensunterhalt mit der Komposition von Filmmusiken bestreiten musste.
Der Stille und der Natur abgelauscht
1991, als in der zerfallenden Sowjetunion ein neuer Bürgerkrieg drohte, emigrierte Gubaidulina nach Deutschland. Hier fand sie ein Jahr später eine neue Heimat: in Appen, einem Dorf vor den Toren Hamburgs, dessen ländliche Abgeschiedenheit ihr den Kontakt zur Natur ermöglichte. Dies war eine unabdingbare Voraussetzung für ihren Schaffensprozess, wie die Komponistin bei einer Begegnung im Jahr 2007 erklärte. «In langen Spaziergängen gelingt es mir, mich zu versenken und in der Stille zu hören, was in der Welt und im Universum klingt – mithilfe von Sonne, Himmel und Bäumen.»
Von der spirituellen Naturverbindung angeregt, empfand Sofia Gubaidulina auch ihr eigenes Wirken als organische Tätigkeit. «Ich baue nicht, sondern züchte. Wie bei einem Lebewesen, das von vornherein in seiner Ganzheit da ist, höre ich auch immer schon vom ersten Moment an das Ganze – das ist etwas vollkommen anderes als bei einem Bau, wo man zuerst das Fundament schafft und dann nach und nach die anderen Stockwerke hinzufügt. Natürlich arbeite ich auch intensiv an der Architektur eines Stückes, aber es ist mir wichtig, dass die Inspiration nicht von Einzelheiten her entsteht, sondern aus der Ganzheit kommt.»
In der ländlichen Idylle ihrer norddeutschen Wahlheimat hat Gubaidulina viele der späteren Werke keimen und erblühen lassen. Darunter auch das 2. Violinkonzert mit dem Beinamen «In Tempus Praesens», das sie über ein Jahr lang gehegt und gepflegt hatte, bevor es 2007 von der Widmungsträgerin Anne-Sophie Mutter am Lucerne Festival uraufgeführt wurde.
Auch dieses Konzert, inspiriert von der Gestalt der Göttin Sophia, offenbart die spirituelle Haltung der Komponistin, die sich in nahezu allen ihrer bedeutendsten Werke spiegelt. Das gilt für den wunderbaren «Sonnengesang» für Cello, Schlagwerk und Chor auf einen Text von Franz von Assisi ebenso wie für das apokalyptische Orchesterstück «Der Zorn Gottes» aus dem Jahr 2019 – und für ihr 2016 uraufgeführtes Oratorium «Über Liebe und Hass», ein Schlüsselwerk der Komponistin, in dem sie Gebete und Psalmen in verschiedenen Sprachen vertont hat.
«Ab und zu kommt sie zu uns auf die Erde»
Sie könne sich keine Kunst vorstellen, die sich «nicht zum Himmel, zum Vollkommenen, zum Absoluten wendet», hat Sofia Gubaidulina gesagt – und diese Suche nach etwas Höherem, das grösser ist als der Mensch, mit ihrem ganzen Wesen verkörpert. Die Komponistin umwehte oft eine schwebende, leicht sphärische Aura, wenn sie – zutiefst uneitel und ein bisschen scheu – über ihre Musik oder die Idee der Schöpfung philosophierte. Kein Wunder, dass der Dirigent Sir Simon Rattle sie als «fliegende Einsiedlerin» gesehen hat: «Ab und zu kommt sie zu uns auf die Erde und bringt uns Licht und geht dann wieder auf ihre Umlaufbahn.»
Dieses Licht hat vielen Menschen das Leben erhellt. Die Werke von Sofia Gubaidulina gehören längst zum erweiterten Repertoire der grossen Orchester und vieler bedeutender Ensembles. 2002 hat die Komponistin den Polar Music Prize bekommen – auch als inoffizieller «Nobelpreis für Musik» bekannt. Eine von unzähligen Auszeichnungen für Gubaidulina, die der frühere Intendant der Berliner Festspiele Ulrich Eckhardt anlässlich ihres 85. Geburtstags im Jahr 2016 so knapp wie treffend als «die bedeutendste und originellste Komponistin von heute» bezeichnet hat, «ihre männlichen Kollegen eingeschlossen».
Am 13. März ist Sofia Gubaidulina in ihrem Wohnsitz bei Hamburg im Alter von 93 Jahren gestorben. Gubaidulinas Schaffen aber dürfte in weiten Teilen Bestand haben, es ist längst Teil des internationalen Repertoires.