Böse Sponsoren gegen unschuldige Sportler: Ausgerechnet der Streamingdienst kritisiert die Kommerzialisierung des Radsports. Das ist paradox.
Mancher, der sich dieser Tage auf dem Sofa einfindet, um die 112. Austragung der Tour de France im TV zu verfolgen, schätzt an diesem unmenschlich harten Sport vor allem dessen komplexe und bisweilen antiklimaktische Dramaturgie. Bei einer fünfstündigen Übertragung kann es durchaus vorkommen, dass der geneigte Zuschauer mehrfach auf dem Sofa einnickt und trotzdem nichts Entscheidendes verpasst. Die Räder sirren schön, der Kamera-Helikopter brummt, und die Reporter schreien nicht. Wer sich zum ersten Mal mit dem Sport beschäftigt, wird wahrscheinlich ohnehin nicht alles verstehen.
In der inzwischen dritten und wohl letzten Staffel von «Unchained», der von Netflix produzierten Serie über die jeweils vorangegangene Grande Boucle, ist das selbstverständlich anders. Da kochen die Emotionen hoch. Es gibt Comeback-Storys, Märchen und anderes, was in möglichst kurzer Zeit anrühren und begeistern soll.
In reisserischen Aufnahmen werden die bewegendsten Szenen des Vorjahres dargeboten. Wie Mark Cavendish mit 39 Jahren den Etappensiegrekord von Eddy Merckx einstellt. Wie Biniam Girmay als erster Schwarzafrikaner ins grüne Trikot fährt. Und natürlich, wie das die Gemüter erhitzende Duell zwischen Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard abläuft.
Skrupellose Montage
Jede Episode erzählt eine eigene Geschichte. Dass dieses Rennen drei Wochen dauert, spielt für Netflix keine Rolle. Überhaupt nimmt der Streamingdienst es mit dem dokumentarischen Anspruch nicht sehr ernst. Stattdessen geht es um Zuspitzungen, die inszeniert und durch eine skrupellose Montage herausgearbeitet werden. Der Aussenseiter gegen den Favoriten. Der alte Mann gegen das junge Talent. Der böse Sponsor gegen den unschuldigen Sportler.
Professionelle Athleten und Funktionäre werden in die Rollen von Bösewichtern gedrängt, wenn es die Dramaturgie verlangt. Dominique Serieys, der Chef des Rennstalls Decathlon AG2R La Mondiale, der von Netflix als Personifikation von Ehrgeiz und Sponsorendruck inszeniert wird, sah sich vor einigen Tagen dazu veranlasst mitzuteilen: «So wie ich von Netflix gezeigt werde, bin ich nicht.» Das gilt wohl für alle Protagonisten.
Netflix baut sich seine eigenen Storys, wie übrigens auch bei vergleichbaren Formaten zum Tennissport oder zur Formel 1. Die bereits an einen Zirkus gemahnende Wirklichkeit der Tour de France ist hier nur Vorlage für etwas, das noch grösser und vor allem leichter zugänglich sein will. Das funktioniert auch deshalb nicht, weil der Radsport so wie jeder medial präsente Sport bereits ohne Netflix einer Serie gleicht.
Bizarre private Aufnahmen
Die Diskurse, die Fans über ihre Lieblingssportler führen, unterscheiden sich nicht allzu sehr von jenen, die rund um andere popkulturelle Themen geführt werden. Es gibt Intrigen, Überraschungen, Ungerechtigkeiten und das grosse Glück. Der Sport ist bereits eine Inszenierung. Netflix kann dem nichts hinzufügen, bläst nur alles bis zur Unkenntlichkeit auf.
Der Wert eines Fahrers misst sich heute zweifellos nicht nur an dessen Erfolgen. Attraktive Fahrweisen sind wie das mediale Auftreten wichtiger denn je. Es geht darum, ein Image aufzubauen. Das merkt man den Fahrern an, die den Kameras bereitwillig Zugang in ihre Privaträume schaffen. Sie zeigen sich mit ihren Kindern und bei holprig inszenierten Gesprächen mit ihren Ehefrauen.
Manches ist bizarr. Der Mountainbike-Olympiasieger Tom Pidcock etwa führt stolz den Fuhrpark in seiner Garage vor und lässt sich beim Ego-Shooter-Zocken filmen, als wäre er ein pubertärer Junge, der davon träumt, ein Draufgänger zu sein. Der ecuadorianische Fahrer Richard Carapaz dagegen erzählt nicht frei von Ethno-Kitsch über die Schönheit der Anden.
Drohnenaufnahmen aus Abu Dhabi
Der Fokus auf französischen Teams erklärt sich daher, dass sich der französische Ableger von Netflix für die Serie verantwortlich zeigt. Auch aufgrund dessen dürfte ein Hauptstrang der Episoden das Duell zwischen kleineren (französischen) und grossen Teams sein. Die kritische Position, die ausgerechnet Netflix dazu einnehmen will, mutet paradox an. Kritisiert wird nämlich die Kommerzialisierung des Sports.
In Drohnenaufnahmen aus Abu Dhabi wird der Klassenunterschied zwischen dem von UAE gesponserten Team um Pogacar und allen anderen Equipen aufgezeigt. Einen wirklichen filmischen Ansatz, wie der finanzielle Unterschied zwischen den Teams zu zeigen wäre, haben die Macher der Serie indes nicht. Einen Teammanager, der Trinkflaschen verteilt, als Bild für bescheidenere Mittel zu gebrauchen, führt am Problem vorbei.
Man müsste genauer hinschauen, um die feinen, aber entscheidenden Unterschiede in Sachen Training, Equipment und Logistik zu beleuchten. Die Serie spricht die Dinge lieber aus. Nicht einmal, nein, hundertmal: «Das ist unsere einzige Chance.» – «Die Sponsoren verlangen von uns, dass wir dieses Rennen gewinnen.» – «Die haben viel mehr Geld als wir.» Man muss kein Radsporttraditionalist sein, um damit nichts anfangen zu können. Jede fünfstündige Übertragung einer drögen Flachetappe ist interessanter als das, versprochen.
Auf Netflix.