Wahrscheinlicher als eine Deindustrialisierung ist, dass die Volkswirtschaft vor einem beschleunigten Strukturwandel steht. Den sollte die Wirtschaftspolitik unterstützen statt verzögern.
Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der Deindustrialisierung: Kaum ein Tag vergeht derzeit ohne neue einschlägige Warnung eines Wirtschaftsverbandes oder Konzernchefs, ohne schlechte Konjunkturdaten oder Firmennachrichten.
Was die Daten sagen
Doch wie furchteinflössend ist die Lage tatsächlich? Die Daten sind weniger eindeutig, als es der Katzenjammer erwarten liesse. Schlecht sieht es aus, wenn man nur auf die Produktionswerte schaut. 2023 ist die reale, kalenderbereinigte Produktion im verarbeitenden Gewerbe laut dem Statistischen Bundesamt um 1,5 Prozent gesunken. Im Trend schrumpft sie seit 2018, verschärft durch einen tiefen, aber kurzen Einbruch während der Corona-Pandemie. Zurzeit liegt sie deutlich unter dem Niveau von 2015.
Besonders drastisch ist der Einbruch der energieintensiven Industrien, der mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eingesetzt hat. Dieser liess die Lieferung von günstigem Pipeline-Gas aus Russland schrittweise versiegen und die Energiepreise in Rekordhöhe hochschnellen. In der Folge hat die Produktion der chemischen Industrie 2023 den niedrigsten Wert seit 1995 erreicht.
Deutlich besser entwickelt hat sich allerdings die Bruttowertschöpfung. Sie misst den nach Abzug der Vorleistungen durch das verarbeitende Gewerbe geschaffenen Mehrwert. Auch in dieser Datenreihe gibt es einen Corona-Einbruch, aber das Niveau liegt inzwischen wieder über jenem von 2015, und die Bruttowertschöpfung rutscht nicht ab wie die Produktion.
Eine Studie des Münchner Ifo-Instituts führt die Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Industrieproduktion und der industriellen Wertschöpfung auf einen strukturellen Wandel zurück. Sie verweist unter anderem auf eine sinkende Vorleistungsquote: Hatten deutsche Unternehmen vor allem in den 1990er Jahren im Zuge der Globalisierung immer mehr Vorleistungen für einheimische Produktionen aus dem Ausland bezogen, ist diese Quote spätestens seit Anfang 2010 wieder rückläufig. Das könnte auf mehr Eigenproduktion – Stichwort: Reshoring –, aber auch auf die Auslagerung ganzer Fliessbandproduktionen mit hohem Vorleistungsanteil ins Ausland zurückzuführen sein.
Entscheidend für den Wohlstand eines Landes ist diese Wertschöpfung, die auch den Beitrag eines Wirtschaftsbereichs zum Bruttoinlandprodukt (BIP) bestimmt, nicht die mengenmässige Produktion. Die Ifo-Studie zieht deshalb das Fazit, dass es derzeit keine Anzeichen für eine breit angelegte Deindustrialisierung der deutschen Wirtschaft gibt.
Zur Entdramatisierung trägt auch ein internationaler Vergleich bei: In Deutschland liegt der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der gesamten Bruttowertschöpfung laut Eurostat-Daten mit zuletzt knapp 21 Prozent deutlich über dem EU-Durchschnitt von 17 Prozent. Während diese Kennzahl in Staaten wie Frankreich und Grossbritannien seit Mitte der 1990er Jahre stark gesunken ist und nun bei rund 10 Prozent liegt, schwankte sie in Deutschland mit Ausnahme der Finanzkrise meist zwischen 22 und 23 Prozent, erst seit 2019/20 liegt sie etwas darunter. Anderswo ist somit der Strukturwandel weg von der Industrie hin zu Dienstleistungen weiter vorangeschritten als in Deutschland.
Ist somit alles in Butter? Natürlich nicht. Nicht nur die Industrie, sondern auch die ganze deutsche Volkswirtschaft befindet sich in einer Schwächephase. Gemessen am BIP-Wachstum rangiert Deutschland dieses und letztes Jahr auf den letzten Plätzen unter den grossen Industriestaaten. Dabei mischen sich konjunkturelle und strukturelle Faktoren, exogene Einflüsse und hausgemachte Probleme.
Wachstumspotenzial sinkt
Zu den konjunkturellen und den exogenen Faktoren zählen neben den hohen Zinsen etwa die schwache Entwicklung wichtiger Exportmärkte und die geopolitischen Risiken. Darunter leidet Deutschland als exportintensive Volkswirtschaft stärker als andere grosse Staaten.
Gefährlicher sind die strukturellen Faktoren, die das Potenzialwachstum mindern. Das ist jenes Wachstum, das bei optimaler Auslastung aller Produktionskapazitäten erreicht werden kann. Die «Wirtschaftsweisen» schätzten in ihrem letzten Jahresgutachten, dass das Potenzialwachstum ohne Gegensteuer bis 2028 mit einem jährlichen Durchschnitt von 0,4 Prozent nur noch etwa einen Drittel des Wertes der letzten Dekade und damit einen historischen Tiefstand erreichen dürfte.
Zu den Hauptgründen zählt der demografische Wandel: Weil in den nächsten Jahren die Babyboomer in Rente gehen, dürfte sich der Fach- und Arbeitskräftemangel deutlich verschärfen.
Ein weiterer struktureller Faktor ist die Energie: Zwar hat die Energiekrise keine Mangellagen provoziert, und die Preise sind wieder gesunken. Aber Deutschland dürfte auf längere Sicht höhere Energiepreise haben als zum Beispiel die USA. Es fehlt nicht nur an Wind und Sonne, auch die vermurkste Energiewende trägt dazu bei. Frühere Regierungen haben den gleichzeitigen Ausstieg aus Kohlestrom und Atomkraft beschlossen, ohne einen ausreichenden Ausbau der Erneuerbaren, der Stromleitungen und der als Brückentechnologie nötigen Gaskraftwerke einzuleiten; die «Ampel» hat die Ausstiege im Wesentlichen bestätigt und kommt beim Ausbau erst langsam in die Puschen.
«Einiges ist weg für immer»
Das spürt allen voran die Chemieindustrie, die (noch) viel Erdgas als Energieträger und Rohstoff benötigt. BASF, der weltgrösste Chemiekonzern, ist ein Paradebeispiel für die strukturellen Verwerfungen. Letzte Woche hat der Konzernchef Martin Brudermüller an der Bilanzpressekonferenz einen weiteren Personalabbau und die Schliessung weiterer Anlagen im Stammwerk Ludwigshafen angekündigt, um dieses wieder profitabel zu machen. Gleichzeitig investiert er Milliarden in ein Verbundprojekt in China.
Brudermüller begründet diese Scherenbewegung mit der schwachen Nachfrage im Heimmarkt und dem Gewicht des chinesischen Marktes, aber auch mit strukturellen Veränderungen: «Wir müssen uns davon verabschieden in Deutschland, dass die guten alten Zeiten zurückkommen. Da sind einige Dinge einfach weg für immer.» Seit längerem verweist der BASF-Chef auf hohe Kosten nicht nur für Energie, sondern auch für andere Produktionsfaktoren. Zudem kritisiert er Überregulierung und langsame Genehmigungsverfahren. Gleichwohl werde Ludwigshafen der weltweit grösste Standort von BASF bleiben, betont er aber.
Handeln statt jammern
Was ist zu tun? Was in Deutschland derzeit geschieht, ist eher ein durch Demografie, Digitalisierung und Dekarbonisierung ausgelöster und durch die Energiekrise beschleunigter Strukturwandel als eine flächendeckende Deindustrialisierung.
Wenig erfolgversprechend ist in dieser Lage der deutsche Hang, einzelne Unternehmen und Branchen, von Halbleiterfabriken bis zur Solarindustrie, mit Subventionen ins Land zu locken oder hier zu halten. Dies mag den Strukturwandel verzögern, aufhalten kann es ihn nicht. Man sollte auch gar nicht versuchen, ihn aufzuhalten: Werden Aktivitäten ins Ausland verlagert oder eingestellt, bei denen Deutschland Standortvorteile verliert, werden Kapazitäten frei für neue, zukunftsträchtigere Tätigkeiten.
Entscheidend für den deutschen Wohlstand ist nicht, ob BASF die energieintensive Ammoniakproduktion an Standorte mit billigerer Energie verlagert oder Miele seine Waschmaschinen künftig in Polen montiert. Entscheidend ist, ob «alte» Konzerne mit solchen Anpassungen ihr langfristiges Überleben sichern und die Wertschöpfung in Deutschland halten können. Und noch wichtiger ist, ob es der Industrie gelingt, in neuen Bereichen wie der künstlichen Intelligenz vorne mitzumischen. Hierzu braucht es Startups wie Aleph Alpha ebenso wie Innovationen in Konzernen von Bosch bis Siemens.
Das kann der Staat weder herbeiregulieren noch herbeisubventionieren. Helfen kann er gleichwohl. Am besten durch eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für alle Unternehmen. Die Stichworte sind so altbekannt, dass man sie kaum zu wiederholen wagt: Bürokratieabbau, schnellere Genehmigungsverfahren, moderate Steuerbelastung, höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen und Älteren, Zuwanderung von Fachkräften, Erhöhung des Energieangebots und Ausbau der Energienetze, Investitionen in Infrastruktur und Bildung.
Davon reden auch «Ampel»-Politiker. Doch statt rasch ein Paket mit ersten beherzten Massnahmen zu schnüren, streiten der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck und der liberale Finanzminister Christian Lindner öffentlich über den richtigen Weg. Einig sind sie sich nur in der düsteren Beschreibung der Lage. Damit schüren sie Unsicherheit, was zur Aufschiebung von Unternehmensinvestitionen beiträgt – und damit zu einer weiteren Verschlechterung. Handeln statt jammern tut not, in der Industrie wie in der Politik, will Deutschland das Gespenst der Deindustrialisierung bannen. Stattdessen überwiegen Furcht und Klagen. Doch zu Tode gefürchtet ist auch gestorben.
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