Regimeopfer, die Gerechtigkeit wollen, ehemalige Asad-Soldaten, die um ihr Leben fürchten, und neue Machthaber, die eine kaputte Verwaltung übernehmen: ein Besuch in Syriens Schicksalsstadt.
Ausgerechnet sein Auto wurde Alaa al-Khatib zum Verhängnis. Der 60-Jährige fuhr einen Toyota Prado. Der Geländewagen war beliebt bei den Offizieren der Asad-Armee und galt in Syrien als Symbol von Regimeanhängern. Kaum hatten die Rebellen der Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) Khatibs Fahrzeug in den Strassen von Homs erspäht, war das Schicksal des Syrers besiegelt.
Wenige Tage nach ihrer Machtübernahme in der zentralsyrischen Stadt stürmten mehrere Bewaffnete das Haus des ehemaligen Militärs und verschleppten ihn. Seither fehlt von Khatib jede Spur. «Wir haben überall nach ihm gesucht», sagt seine Schwester. «Aber wir haben keine Ahnung, wo er ist.»
Die kleine Frau, die sich nicht fotografieren lassen will, sitzt in einem verrauchten Zimmer im Alawitenviertel Zahra und ist verzweifelt. «Natürlich war er bei der Armee, wie so viele von uns», sagt sie. «Aber er hatte mit dem Krieg nichts zu tun. Er war bloss für die Reparatur von Lastwagen und Panzern zuständig.»
Die Rebellen verhafteten 2700 Männer
Doch das nützt dem verschleppten Ex-Offizier und seiner Familie wenig. Denn Khatib ist nicht der einzige Verschwundene. Rund 2700 Männer haben die islamistischen Rebellen nach ihrem Einmarsch in Homs verhaftet. Es sind fast alles ehemalige Militärs der geschlagenen Armee von Bashar al-Asad – und damit Angehörige der Sekte der Alawiten.
Die Anhänger dieser Konfession gehören wie die Christen zu den Minderheiten in der sunnitisch geprägten Stadt. Weil viele von ihnen zu Asads Zeiten treu an der Seite des ebenfalls alawitischen Diktators standen, sind sie nun ins Fadenkreuz der neuen Machthaber geraten. Knapp zwei Monate nach dem Ende des syrischen Bürgerkriegs droht im schwer geschundenen Homs deshalb ein neuer Konflikt.
In der drittgrössten Stadt Syriens, in der abends die Feuerstellen der Dieselschmuggler zwischen finsteren Ruinen glimmen, herrscht eine angespannte Stimmung. Auf dem Platz mit dem berühmten Uhrenturm machen zwar HTS-Milizionäre und wild aussehende Jihadisten fröhlich Selfies mit der Stadtjugend. Familien umringen die siegreichen Milizionäre, die das verhasste Regime des Diktators Bashar al-Asad vertrieben haben.
Doch ein paar Strassen weiter herrscht schon wieder Ausnahmezustand. Im Alawitenviertel Zahra haben an jeder Strassenecke Kämpfer der neuen Regierung Stellung bezogen. Die Männer mit Sturmgewehren halten jedes Auto an. Manche Gassen, die in das ärmlich aussehende Viertel führen, haben sie mit Betonblöcken verbarrikadiert.
Regierungsvertreter sagen, das diene dem Schutz der dort lebenden Bevölkerung. Doch die Anwohner trauen ihnen nicht. Denn die HTS-Patrouillen auf der Jagd nach Asad-Schergen sind nicht die Einzigen, die die Alawiten nachts aus ihren Betten zerren. Kriminelle Banden entführen auch ganz normale Bürger. Und in den alawitischen Dörfern rund um Homs verübten sunnitische Extremisten kürzlich mehrere Massaker, ohne dass die neuen Sicherheitskräfte eingeschritten wären.
In der Gemeinschaft gehe deshalb die Angst um, sagt Shiadi Mayhub, ein einflussreicher Alawitenführer und Politiker. Zu Asad-Zeiten sass er im Parlament, arbeitete aber auch mit der Opposition zusammen. Er trägt einen Trainingsanzug und sitzt rauchend in seinem Wohnzimmer. Immer wieder kommen Männer aus dem Viertel vorbei und flüstern ihm ins Ohr. «Viele unserer Leute glauben, dass jetzt der Tag der Abrechnung gekommen ist», sagt er.
Ein grausamer Bruderkampf
Tatsächlich gibt es in Homs viele offene Rechnungen zu begleichen. Denn in der konfessionell gemischten Stadt, die zu den ersten gehörte, die sich 2011 gegen Asad erhoben hatten, wütete der Krieg besonders grausam. Die Regimetruppen gingen hier mit aller Härte gegen die Aufständischen vor. Sie zerstörten deren Viertel, vertrieben die Bewohner, mordeten und plünderten, bis sie die Stadt 2017 vollständig zurückerobert hatten.
Dabei standen sich nicht nur Soldaten und Rebellen gegenüber. Der Krieg in Homs war auch ein Bruderkampf. Asad-treue Alawiten in der Stadt bildeten Milizen, die sogenannten Shabiha, die auf ihre sunnitischen Nachbarn losgingen. Deren Kämpfer wiederum ermordeten Alawiten. «Es war ein Blutbad, an dem sich viele beteiligt haben», sagt Mayhub. «Kein Wunder, dass jetzt die Angst vor Rache umgeht.»
Immer wieder betont der neue starke Mann in Damaskus, Ahmed al-Sharaa, früher bekannt unter dem Kampfnamen Abu Mohammed al-Julani, in Syrien sei Platz für alle Konfessionen. Im Zentrum des Landes, wo Sieger und Besiegte nebeneinander leben und der Durst nach Rache genauso gross ist wie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, wird sich zeigen, ob die Ex-Jihadisten dieses Versprechen einlösen können. Homs ist deshalb Syriens Schicksalsstadt.
Influencer im Palast
«Gebt uns mehr Zeit», sagt Abdulrahman al-Aama, der neue Gouverneur von Homs. Dem 35-Jährigen steht eine Mammutaufgabe bevor. «Wir haben vom alten Regime eine korrupte und ausgehöhlte Verwaltung geerbt», sagt der Politiker, der bis vor kurzem noch in der Rebellenenklave Idlib in Nordsyrien als Funktionär tätig war. Es habe sogar Beamte gegeben, deren Arbeit nur darin bestanden habe, die Lichtschalter in den Büros zu betätigen.
Jetzt will al-Aama den Bürgern zeigen, dass es vorwärtsgeht. Er lädt Dutzende Influencer in seinen Palast, um die Probleme der Stadt zu besprechen. Die jungen Männer und Frauen, die zum ersten Mal von einem Offiziellen nach ihrer Meinung gefragt werden, nehmen kein Blatt vor den Mund. Vieles liege im Argen, die Stadt müsse sich unbedingt um die Witwen und Waisen kümmern, sagt etwa Hiba Sabbah, eine Aktivistin, die in den Armenvierteln Lebensmittelpakete verteilt.
Sabbah ist Sunnitin und kommt aus Baba Amr, einer ehemaligen Rebellenhochburg im Südwesten von Homs. «Natürlich sind wir glücklich, dass Asad weg ist», sagt sie nach dem Treffen mit dem Gouverneur. «Viele Leute haben unter dem Regime stark gelitten. Zudem mangelt es an allem.» Von den Entführungen am anderen Ende der Stadt habe sie gehört, sagt sie. «Ich denke, das sind Provokateure des Regimes oder Irans, die die neue Regierung destabilisieren wollen», sagt sie.
Wie Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg
Tatsächlich haben die Einwohner von Baba Amr wenig Mitleid mit den meist ebenfalls armen Alawiten drüben in Zahra. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Massaker der Regimetruppen und der mit ihnen verbündeten Shabiha-Milizen. Zu viele grauenhafte Details drangen zuletzt aus Asads finsteren Folterkellern, wie dem Gefängnis von Saidnaya, an die Öffentlichkeit.
In Baba Amr sieht es auch Jahre nach dem Ende der Kämpfe immer noch aus wie in Dresden am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Fassaden zerschossener Häuser ragen wie faule Zähne in den Winterhimmel, ganze Strassenzüge wurden dem Erdboden gleichgemacht. Von 2011 bis 2012 hatten sich hier Rebellen verschanzt. Asads Armee belagerte das Viertel und beschoss es so lange, bis die Aufständischen aufgaben und abzogen.
Jetzt kommen viele der damals Vertriebenen zurück. «Aber die meisten haben keine Häuser mehr. Alles ist zerstört», sagt Mohammed al-Omar, der in einer der staubigen Strassen ein Süsswarengeschäft betreibt. Sein Sohn war während der Kämpfe verschleppt worden. «Er wurde in einem der Foltergefängnisse des Regimes ermordet», sagt der 60-Jährige, dessen Frau aus Trauer über den Verlust ebenfalls starb.
«Wir mussten etwas tun, die Leute erwarten das»
Omar ist bis heute nicht darüber hinweggekommen. «Es schmerzt ungemein», sagt er, während er im Wohnzimmer seines notdürftig reparierten Hauses auf einem kleinen Gasofen Kaffee kocht. Er freue sich, dass die neue Regierung jetzt für Sicherheit und Ordnung sorge. «Ich will keine Rache. Aber es ist wichtig, dass die Verantwortlichen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.»
Aber wie lässt sich das erreichen, ohne neuen Hass zu säen? Die neuen Machthaber haben sich für ein hartes Vorgehen entschieden. «Wir mussten etwas tun, die Leute erwarten das von uns», sagt Obaida Arnaut, der oberste HTS-Kader von Homs. Der Islamist empfängt in der ehemaligen Zentrale von Asads Baath-Partei. Er gibt sich staatstragend und hat für den Pressetermin extra einen Anzug mit Krawatte angezogen.
Arnaut, der mit den siegreichen Rebellen aus Idlib zurück in seine Heimatstadt kam, ist der neue starke Mann in Homs. Er habe die Alawitenführer dazu aufgefordert, ihre Waffen abzugeben und ehemalige Schergen des Regimes auszuliefern. «Aber die Resultate waren ernüchternd. Wir bekamen bloss ein paar Dutzend Waffen ausgehändigt.» Deshalb habe man beschlossen, Viertel wie Zahra zu durchsuchen und Verdächtige zu verhaften.
Die wahren Mörder sind längst geflohen
Dass dabei Fehler passiert sind, stellt Arnaut – der vor kurzem mit abfälligen Bemerkungen über Frauen in Syrien einen Sturm der Entrüstung ausgelöst hatte – nicht in Abrede. «Uns fehlen die Kräfte, um sofort überall für Sicherheit zu sorgen», sagt er. «Und wir können ja nicht ehemalige Asad-Soldaten einstellen.» Immerhin werde er seine Einheiten demnächst mit neuen Identitätskarten ausstatten, damit man sie erkennen könne.
Die Alawiten vermag das kaum zu beruhigen. Die neuen Machthaber zeigten sich nur wenig kooperativ, sagt ein Anwalt aus Zahra. «Als HTS-Männer meine Wohnung stürmten, verwüsteten sie alles. Als ich mich bei der Führung beschwerte, reagierte sie nicht.» Auch Shiadi Mayhub, der Alawitenführer, kritisiert das Vorgehen der neuen Regierung: «Viele der Verhafteten sind der Armee nicht freiwillig beigetreten. Sie wurden zwangsverpflichtet. Die wahren Mörder sind längst geflohen.»
Zudem gehe die Regierung nicht effektiv gegen Verbrecher und rachsüchtige Extremistengruppen vor, die auf eigene Faust Jagd auf Alawiten machen. Mayhub will die Dinge nun selbst in die Hand nehmen und mit den Sunnitenführern direkt verhandeln. Zumindest in einer Sache kommen die HTS-Leute den verängstigten Alawiten bereits entgegen. Nach Wochen der Ungewissheit wurden kürzlich die ersten Gefangenen entlassen.
«In so einem Land will ich nicht leben»
Alaa al-Khatib, der Offizier mit dem Toyota Prado, war nicht dabei. Dafür bezeugen andere, was er möglicherweise gerade durchmacht. Die HTS-Männer hätten ihn in ein Sunnitenviertel gebracht, erzählt ein kürzlich entlassener ehemaliger Wehrpflichtiger, der unerkannt bleiben will. «Dort wurden wir verprügelt und beschimpft.» Daran hätten sich nicht nur Kämpfer beteiligt, sondern auch ganz normale Bürger. Viele von ihnen hatten offenbar Angehörige im Krieg oder in Asads Folterkammern verloren.
Später landete der einfache Soldat, der zeitweise selbst auf der Flucht vor dem Regime gewesen war, im Zentralgefängnis von Homs. Dort sei er gut behandelt worden. «Aber ehemalige Gefängniswärter, Angehörige von Spezialkräften, Geheimdienstleute und Piloten wurden sofort aussortiert», sagt er. Was mit ihnen passiert sei, wisse er nicht. «Möglicherweise wurden sie exekutiert.»
Er selbst wurde nach einigen Wochen Haft und einer kurzen Sicherheitsüberprüfung entlassen. Mit dem neuen Syrien und seiner Heimat Homs hat der 33-Jährige aber abgeschlossen. Er will ins Ausland. «Ich habe Tourismus studiert», erzählt er. «Aber als ich im Gefängnis war, herrschten islamische Regeln, und ich musste mich von Leuten belehren lassen, die nicht einmal lesen können. In so einem Land will ich nicht leben.»