Die Studentenproteste in Bangladesh und Indien haben ein wachsendes Problem in den Fokus gerückt: die Jugendarbeitslosigkeit. Beide Länder erleben seit Jahren Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungszuwachs. Es ist eine tickende Bombe.
Tagelange Strassenschlachten haben in Bangladesh über 150 Menschen das Leben gekostet und die autoritäre Regierung von Sheikh Hasina in eine tiefe Krise gestürzt. Die Studentenproteste richten sich vordergründig gegen ein umstrittenes Quotensystem zur Vergabe von Stellen im Staatsdienst. Doch dahinter steht ein viel grösseres Problem: die wachsende Jugendarbeitslosigkeit. Das Problem ist an Sprengkraft kaum zu überschätzen und beschränkt sich nicht auf Bangladesh. Auch Indien muss dringend mehr Arbeitsplätze schaffen.
Bangladesh, Indien und andere Länder der Region haben eine riesige junge Bevölkerung. So sind in Indien zwei Drittel der 1,4 Milliarden Einwohner unter 35 Jahre alt. Diese Jugenddividende ist eine der grossen Stärken für Indien und Bangladesh, aber auch eine riesige, ungelöste Herausforderung. Denn die Wirtschaft muss jedes Jahr Millionen neue Stellen für die jungen Leute schaffen, die auf den Arbeitsmarkt streben. Bis jetzt geschieht dies nicht im ausreichenden Masse.
Auch in Indien gab es in den letzten Wochen riesige Studentenproteste. In diesem Fall entzündeten sie sich an der Annullierung wichtiger Aufnahmeprüfungen für die Universitäten. Der Grund dafür war, dass zum wiederholten Male die Prüfungsfragen kurz vor dem Test geleakt worden waren. Die Regierung von Narendra Modi steht nun seitens der Studenten und der Opposition unter Druck, das Prüfsystem zu reformieren, um weitere Betrügereien zu verhindern.
Viel zu wenig Stellen für Uniabsolventen
Anders als in Bangladesh verliefen die Proteste in Indien weitgehend friedlich. Sie sind aber Ausdruck des gleichen Malaises: Es gibt viel zu wenig Plätze an den Universitäten für die wachsende Zahl junger Leute, und für die Absolventen gibt es viel zu wenig Stellen auf dem Arbeitsmarkt. Ein Universitätsabschluss ist längst keine Jobgarantie mehr – im Gegenteil. Die Arbeitslosigkeit unter Uniabsolventen ist noch höher als unter dem Rest ihrer Altersgenossen, da es für höher gebildete Arbeitssuchende nur wenige geeignete Stellen gibt.
Indien und Bangladesh gehörten im vergangenen Jahrzehnt mit einem Wachstum von über 6 Prozent zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. In Bangladesh wird es getragen vom grossen Textilsektor, in Indien sind es vor allem Dienstleistungen, die die Wirtschaft antreiben. Der indische IT-Sektor hat aber insgesamt lediglich 5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Und die Nähereien in Bangladesh bieten kaum Stellen für Universitätsabsolventen.
Laut den Zahlen der indischen Regierung waren im ersten Quartal 2024 in Indiens Städten 6,8 Prozent ohne Arbeit. Unter Uniabsolventen erreicht die Arbeitslosigkeit aber 40 Prozent. Allerdings ist laut Ökonomen die Arbeitslosenquote nur bedingt aussagekräftig. Denn die Zahl der Unbeschäftigten verdeckt die riesige Zahl der Unterbeschäftigten. Nur knapp die Hälfte der Arbeitskräfte in Indiens Städten hat laut der Regierung einen Vollzeitjob. Zwei Drittel der Frauen arbeiten ohne Bezahlung in der Familie.
Die Studenten erbringen hohe Opfer für ihren Abschluss
Insgesamt sind laut dem «India Employment Report 2024» rund 90 Prozent aller Arbeitskräfte informell beschäftigt. In den Städten arbeitet ein Grossteil der Bevölkerung als Tagelöhner, Strassenhändler oder Haushaltshilfen unter prekären Bedingungen. 9 Prozent sind im formellen Sektor beschäftigt mit zumindest einer begrenzten sozialen Absicherung. Doch nur etwas mehr als 2 Prozent verfügen über eine feste Arbeitsstelle mit einem längerfristigen Vertrag und Ansprüchen auf Krankenversicherung, Rentenleistungen und Mutterschutz.
Während die Ärmeren keine andere Wahl haben, als verfügbare Stellen anzunehmen, sind viele Universitätsabsolventen wählerischer. Nachdem sie oft grosse Ressourcen in Nachhilfekurse zur Vorbereitung auf die hoch kompetitiven Aufnahmeprüfungen für die Universitäten und später in die Examen gesteckt haben, wollen sie ungern eine prekäre und schlecht bezahlte Stelle im Privatsektor annehmen. Gleichzeitig erfüllen viele der Absolventen aber auch nicht die Anforderungen der Firmen.
Denn viele Studiengänge sind praxisfern, setzen auf Auswendiglernen und regen nicht zum eigenständigen Denken an. Die Folge ist paradox: Nachdem sie jahrelang grosse Opfer für ihren Universitätsabschluss erbracht haben, haben viele Absolventen hohe Ansprüche an ihre künftigen Arbeitgeber bezüglich Bezahlung und Sicherheit. Nach einer mediokren Ausbildung bringen sie aber nicht die nötigen Fähigkeiten mit. Das Ergebnis ist Frust und Ärger auf beiden Seiten.
Die hohe Arbeitslosigkeit hat Modi Stimmen gekostet
Viele Uniabsolventen sind am Ende gezwungen, Arbeit anzunehmen, für die sie (zumindest auf dem Papier) überqualifiziert sind. Viele, die es sich leisten können, warten aber ab, studieren weiter oder streben in den Staatsdienst, der langfristige Sicherheit und ein höheres Prestige verspricht. Die Folge ist, dass die Stellen im öffentlichen Dienst hart umkämpft sind. Um an die begehrten Stellen zu gelangen, sind viele bereit, zu Bestechung und Betrug zu greifen. Regelmässig gibt es in Indien Skandale, wenn Testfragen durchgestochen werden.
Schon vor der jüngsten Affäre um Aufnahmeprüfungen trieb die Sorge um die Zukunft viele junge Inder um. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit gilt als einer der Gründe dafür, dass Narendra Modis Bharatiya Janata Party bei der Parlamentswahl im Juni einen empfindlichen Dämpfer erhielt und ihre Mehrheit verlor. Viele Wähler überzeugte offenbar Modis Erzählung vom Aufstieg Indiens nicht mehr, da sich ihre eigene Situation seit seinem Amtsantritt kaum verbessert hat.
Zusätzlich für Streit sorgen die Quoten, die es in Indien und Bangladesh im Staatsdienst für diverse Gruppen gibt. In Indien sind dies vor allem die Dalits – die früher Unberührbaren – und andere Angehörige traditionell benachteiligter Kasten und Stämme. Dieses komplexe System der positiven Diskriminierung soll es erlauben, das Gleichheitsversprechen der Verfassung einzulösen. Es führt aber immer wieder zum Vorwurf, Herkunft werde stärker als Leistung honoriert.
Viele Studenten empfinden die Quoten als ungerecht
In Bangladesh war es jüngst vor allem eine Quote für die Nachkommen der Veteranen des Unabhängigkeitskriegs 1971, die für Protest sorgte. Sie sah vor, dass 30 Prozent aller Stellen im Staatsdienst für die Kinder und Enkel von Freiheitskämpfern reserviert sind. Da es zusätzlich Quoten für Frauen, Menschen mit Beeinträchtigungen und gewisse Minderheiten gibt, waren weniger als 50 Prozent aller Stellen frei verfügbar. Viele Studenten empfinden dieses Quotensystem als ungerecht.
Nach einer Woche blutiger Strassenkämpfe zwischen Gegnern der Quote und der Polizei entsandte Premierministerin Sheikh Hasina am Freitag das Militär auf die Strassen Bangladeshs und verhängte eine Ausgangssperre, um die Lage wieder unter Kontrolle zu bringen. Am Sonntag urteilte das Oberste Gericht, dass die Quote für die Nachfahren von Freiheitskämpfern von 30 auf 5 Prozent reduziert werden sollte. Für Minderheiten sollen nur noch 2 Prozent der Stellen reserviert sein. Ob die Regierung dem Urteil des Gerichts folgt, ist bislang unklar.
Offen ist auch, ob sich die Studenten damit zufriedengeben. Vor dem Urteil hatten die Protestführer gefordert, dass sich Sheikh Hasina für die Gewalt der Polizei entschuldigt, die zuständigen Minister entlässt und die Opfer entschädigt. In jedem Fall ist klar, dass auch eine Reform des Quotensystems das Problem der Jugendarbeitslosigkeit nicht lösen wird. Was es braucht, sind mehr Arbeitsplätze – und das nicht im Staatsdienst, sondern in der Privatwirtschaft. Für die Regierung in Bangladesh wird dies ebenso wie in Indien und anderen Ländern Südasiens auf Jahre die wichtigste Herausforderung bleiben.