Das Oberste Gericht in Indien hat entschieden, dass die Gefängnisse im Land ihre Regulierung überarbeiten müssen. Es gehe nicht, dass Häftlinge sogar in Klärgruben geschickt würden.
Indien ist nicht nur ein riesiges Land mit unzähligen Sprachen, Bräuchen und grossen Unterschieden zwischen Nord und Süd. Indien ist auch ein Land voller Widersprüche. Einer davon ist das indische Kastensystem. Gemäss Verfassung von 1950 sind alle Bürger Indiens gleich. In der Gesellschaft aber lebt das äusserst differenzierte Einteilen in verschiedene Gruppen und Untergruppen weiter.
Das spielt nach wie vor eine gewichtige Rolle im indischen Heiratsmarkt, selbst in urbanen Milieus. Das Kastensystem spiegelt sich auch in der Ausrichtung der politischen Parteien und selbst in staatlichen Förderprogrammen und Hilfsprogrammen für Arme.
Die «Kastengrenzen», hielt Anfang Oktober das Oberste Gericht Indiens fest, «sind aus Stahl, manchmal unsichtbar, aber fast immer undurchdringbar». Allerdings seien diese Grenze nicht so stark, dass sie nicht mit der Macht der Verfassung gebrochen werden könnten.
Diskriminierung ist in den Handbüchern festgeschrieben
Das Oberste Gericht bricht nun die Barrikade aus Stahl und ordnet an, dass indische Gefängnisse innert dreier Monate ihre Regulierungen überarbeiten müssen. In ihrem Urteil haben die drei zuständigen Richter, unter ihnen der Oberste Richter D. Y. Chandrachud, festgehalten, dass in vielen Teilstaaten Indiens das Gefängnissystem diskriminierend ist und nicht nur gegen die Verfassung verstösst, sondern auch gegen die Würde der Insassen.
In indischen Gefängnissen wird praktiziert, was vor allem fortschrittlich Denkende für überwunden hielten: eine Einteilung der Insassen nach Kasten ihrer Herkunftsfamilien. Dementsprechend werden die Arbeiten in Gefängnissen verteilt. Das Gericht spricht von Zwangsarbeit und davon, dass die Handbücher Regeln, die in der Kolonialzeit festgeschrieben wurden und aus der vorkolonialen Zeit stammen, weiterführen.
Die Richter zeigen sich schockiert, wie weit verbreitet die Praxis ist. Und sie bedauern, dass es Indien in den über siebzig Jahren seiner Unabhängigkeit nicht gelungen ist, die in der Gesellschaft tief verankerte Ungerechtigkeit zu überwinden.
Urteil ist Folge eines Artikels
Den Zustand innerhalb indischer Gefängnismauern hat 2020 die Journalistin Sukanya Shantha eindrücklich beschrieben. So schildert sie unter anderem detailliert, was ein junger Mann, sie nennt ihn Ajay Kumar, in seinen 97 Tagen im Bezirksgefängnis von Alwar, einer indischen Grossstadt im Teilstaat Rajasthan, 2016 erlebt hat. Der Artikel hatte eine Petition zur Folge, die nun zum Urteil führte. Das Gericht würdigte dementsprechend die Arbeit der Journalistin.
Der ausgebildete Elektriker Kumar war 18 Jahre alt, als er 2016 in Untersuchungshaft kam. Er landete im Gefängnis, weil ihn sein Chef des Diebstahls beschuldigt hatte. Kumar wurde später freigesprochen. Doch was er im Gefängnis erlebt habe, sagt er, habe ihn nachhaltig geprägt.
Bei Haftantritt sei er gleich nach seiner Kaste gefragt worden. Er habe gezögert, weil das bisher in seinem Leben keine Rolle gespielt habe. Sein Vater sei vom Land in die Stadt gezogen und habe nie in dem Beruf gearbeitet, der ihm aufgrund seiner sozialen Stellung eigentlich zugeteilt worden sei.
So geht es inzwischen Dutzenden von Millionen von Indern. Doch ursprünglich gehört der Vater zu den Kastenlosen, den Dalits, die gesellschaftlich auf der untersten Stufe stehen. Die Menschen dieser Gruppe sind Ausgegrenzte, Geächtete. Sie putzen, fegen und schaffen die Fäkalien weg, früher zumindest. Im Gefängnis musste Ajay Kumar erfahren, dass das auch 2016 noch galt.
Als die Toiletten überliefen, stieg ein Häftling in die Klärgrube
Der 18-Jährige musste fortan Toiletten putzen und den Hof wischen. Er gab an, dass er allein aufgrund der Arbeiten, die die Häftlinge verrichten mussten, genau sagen konnte, wer zu welcher Kaste gehörte. «Ehrenhaftere» Arbeiten wie kochen oder das Verteilen von Medikamenten waren ausschliesslich Angehörigen der obersten Kasten vorbehalten, den Brahmanen – ursprünglich die Gelehrtenkaste.
Als eines Tages die Toiletten im Gefängnis überliefen, weil der Abfluss in die Klärgrube verstopft war, wurde nicht etwa eine professionelle Firma gerufen. Stattdessen holten die Gefängniswärter Kumar aus der Gefängniszelle und befahlen ihm, dem Schmälsten und Jüngsten, kopfvoran das Rohr zu inspizieren, das zur Klärgrube führte. Er habe nicht fassen können, was ihm geschehen sei. Fast ohnmächtig vom bestialischen Gestank und voller Panik habe er nur noch geschrien. Mithäftlinge hätten ihn dann aus der Kanalisation herausgezogen.
Was Ajay Kumar im Gefängnis widerfahren sei, sei kein Einzelfall, schreibt nun das Oberste Gericht. Es sei in den Gefängnisregularien vieler Teilstaaten festgeschrieben, wer innerhalb des Gefängnisses welche Arbeiten verrichten müsse. Indem die Richter anordnen, dass diese Handbücher überarbeitet werden müssen, hoffen sie, dass in Indien weniger Menschen allein aufgrund ihrer Herkunft Ungerechtigkeiten widerfahren. Sie räumen aber ein, dass der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft lang ist.