Nach dem Vorschlag von US-Präsident Biden demonstrieren Zehntausende in Israel für eine Waffenruhe im Gazastreifen. Woran könnte das Friedensangebot noch scheitern?
«So viele Menschen habe ich noch nie auf der Strasse gesehen», ruft der junge Mann mit den dunklen Haaren über das Tröten und Pfeifen der Menge im Zentrum von Tel Aviv hinweg. «Wir sind so nahe an einem Abkommen, wir wollen die Regierung unter Druck setzen.»
An diesem Samstagabend ist die Innenstadt von Tel Aviv in ein Meer von israelischen Flaggen getaucht. Die wöchentlichen Proteste sind nichts neues, das Ausmass ist es hingegen schon: 120 000 Menschen gingen laut den Organisatoren am Samstagabend in Tel Aviv auf die Strasse – so viele wie noch nie seit Beginn des Gaza-Kriegs am 7. Oktober. Im ganzen Land kam es zu Massenprotesten.
Der Grund für die Demonstrationen ist ein Vorstoss von Joe Biden. Am Abend zuvor hatte der amerikanische Präsident einen neuen Entwurf für eine Waffenruhe im Gazastreifen präsentiert. Der stufenweise Friedensplan sieht eine Rückkehr aller Geiseln und einen permanenten Waffenstillstand vor. Über einen dauerhaften Frieden soll allerdings erst während der ersten Phase verhandelt werden, in welcher die Waffen für sechs Wochen schweigen würden. Laut amerikanischen Quellen handelt es sich um einen israelischen Vorschlag, der an die Hamas übermittelt wurde. Doch das heisst noch lange nicht, dass die israelische Regierung geschlossen hinter einer Waffenruhe steht.
Ultrarechte Minister drohen mit Koalitionsbruch
Die rechtsextremen Koalitionspartner Netanyahus lehnen den Vorschlag vehement ab. Am Samstagabend drohten Finanzminister Bezalel Smotrich sowie Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für nationale Sicherheit, mit einem Austritt aus der Regierung, falls Netanyahu den Biden-Plan akzeptiere.
Ben-Gvir nannte den Vorschlag verfehlt, er bedeute einen Sieg des Terrors und bedrohe die Sicherheit Israels. «Die Zustimmung zu diesem Abkommen ist kein vollständiger Sieg – sondern eine vollständige Niederlage.» Smotrich wiederholte, dass Israel keinem Waffenstillstand zustimmen könne, bevor die Hamas nicht vollständig zerstört sei.
Diesem Diktum schloss sich auch Benjamin Netanyahu in einem vagen Statement an. Am Samstag sagte der Ministerpräsident, Israel werde keinem permanenten Ende der Kämpfe zustimmen, so lange die Hamas noch über militärische und administrative Fähigkeiten verfügt. Netanyahu befürwortete den Vorschlag Bidens weder explizit noch lehnte er ihn ab. Die Hamas kündigte derweil an, sie betrachte das Angebot positiv und werde die Details prüfen.
«Kein guter Deal»
Laut israelischen und amerikanischen Medienberichten entspricht Bidens Vorschlag einem Entwurf, den das israelische Kriegskabinett befürwortet hat. Anders als vor einigen Wochen sei Israel von den Konditionen nicht überrascht gewesen. Damals hatte die Hamas angekündigt, sie akzeptiere einen Vorschlag für einen Waffenstillstand.
Dieser war allerdings ohne Absprache mit Israel von den Vermittlern Ägypten und Katar übermittelt worden. Viele Details einer möglichen Übereinkunft seien allerdings noch ungeklärt, sagt Ophir Falk, ein aussenpolitischer Berater Netanyahus, der britischen Zeitung «The Sunday Times». «Es ist kein guter Deal, aber wir wollen unbedingt, dass die Geiseln freigelassen werden, und zwar alle», sagte er.
Das Angebot der Opposition
Falls Smotrich und Ben-Gvir die Regierung verliessen, bliebe Netanyahu noch eine Alternative. Der liberale Oppositionsführer Yair Lapid wiederholte am Samstag ein früheres Angebot an den Ministerpräsidenten. Lapid – ein erbitterter Gegner Netanyahus – würde den Regierungschef unterstützen, falls seine Koalition wegen der Zustimmung zu einem Geiselabkommen zerfällt. «Ich erinnere Netanyahu daran, dass er von uns ein Sicherheitsnetz für einen Deal zur Geiselbefreiung hat, wenn Ben-Gvir und Smotrich die Regierung verlassen», kündigte Lapid auf X an.
Netanyahu wird wohl kaum auf dieses Angebot eingehen, da Lapid die Zusammenarbeit mit ihm unmittelbar nach der Rückkehr der Geiseln aufkündigen würde. Obwohl Israels Regierungschef zuletzt in den Umfragen wieder zulegen konnte, ist ein Machtverlust bei Neuwahlen wahrscheinlich. Der Ministerpräsident steht unter massivem innenpolitischen Druck. Denn nicht nur die reguläre Regierungskoalition, sondern auch die seit Kriegsbeginn amtierende Einheitsregierung ist kurz vor dem Zusammenbruch.
Der Oppositionspolitiker Benny Gantz hat Netanyahu vor ein Ultimatum gestellt: Entweder der Ministerpräsident präsentiert bis zum 8. Juni einen Nachkriegsplan oder er verlasse das Kriegskabinett, in dem Gantz, Netanyahu sowie Verteidigungsminister Yoav Gallant alle kriegswichtigen Entscheidungen treffen. Während israelische Bürger und Politiker lautstark Position beziehen, hält sich Netanyahu bedeckt. Bisher hat Israels Regierungschef weder auf Gantz’ Ultimatum noch auf die Drohung seiner rechtsextremen Koalitionspartner reagiert.