Weder beim Geiselabkommen noch bei der Bildung einer regionalen Allianz gegen Iran kann der israelische Ministerpräsident Fortschritte verzeichnen. Allerdings könnte ihm eine Sommerpause zu Hilfe kommen.
«Benjamin Netanyahu, mein Grossvater könnte heute noch am Leben sein», schreit die Enkelin von Alex Dancyg ins Mikrofon. Der 75-Jährige war am 7. Oktober von der Hamas nach Gaza verschleppt worden. Am Vortag von Netanyahus Rede vor dem US-Kongress wurde er für tot erklärt. «Er wartete auf jemanden, der ihn rettet. Er wartete auf dich, darauf, dass du das Geiselabkommen abschliesst», ruft die junge Frau, als sie nach oben auf die Leinwand schaut, wo der israelische Ministerpräsident zu seiner Rede in Washington ansetzt.
Als Hunderte Demonstranten am Mittwochabend auf den sogenannten Platz der Geiseln im Zentrum von Tel Aviv strömen, bleibt Benjamin Netanyahu stumm. Die Rede des Regierungschefs in den USA wird auf einer Leinwand übertragen, doch der Ton ist abgeschaltet. Die Bühne gehört den Familien der Geiseln. Markerschütternd dröhnen die Stimmen der Angehörigen aus den Lautsprechern.
Mitten im Krieg gegen die Hamas ist Benjamin Netanyahu in die USA gereist, während immer noch über hundert Israeli von der Hamas unter furchtbaren Bedingungen festgehalten werden. Die Demonstranten in Tel Aviv hatten gehofft, dass er seine Rede vor dem Kongress nutzen würde, um endlich ein Abkommen zur Befreiung der Geiseln anzukündigen. Er tat es nicht.
Zwei Monate ist es inzwischen her, dass Joe Biden seinen Plan für ein Abkommen vorgelegt hat, der auch heute noch als Grundlage in den Verhandlungen mit der Hamas dient. Allerdings hat sich Netanyahu bis heute nicht öffentlich hinter das Vorhaben gestellt. Kurz nach seiner Ankunft in den USA sagte der israelische Ministerpräsident gegenüber Angehörigen lediglich, die Bedingungen für eine Übereinkunft mit der Hamas hätten sich gebessert. Doch auch darüber hinaus ist fraglich, was Netanyahu mit seiner Visite für Israel erreicht hat.
Netanyahu umwirbt Demokraten und Republikaner
Netanyahu war penibel darauf bedacht, bei Demokraten und Republikanern um Zustimmung zu werben. Der israelische Ministerpräsident traf Joe Biden und Kamala Harris, am Freitag reiste er nach Florida zu Donald Trump. Für den amtierenden wie auch den ehemaligen Präsidenten fand er lobende Worte.
In seiner Rede vor dem Kongress war für beide politische Lager etwas dabei. Einmal pries Netanyahu äthiopische und muslimische Soldaten der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) als Helden und betonte Israels Diversität und Offenheit, womit er sich vor allem an die Demokraten gerichtet haben dürfte. Kurz darauf bezeichnete er die propalästinensischen Demonstranten auf den Strassen als «nützliche Idioten Irans» – ein rhetorisches Geschenk an die Republikaner.
Der Politprofi Netanyahu weiss, dass ein israelischer Ministerpräsident mit jeder US-Regierung zusammenarbeiten muss. Ohne die amerikanische Unterstützung könnte der jüdische Staat der Bedrohung an fast all seinen Grenzen nicht standhalten. Auch wenn Netanyahu in der Vergangenheit die Republikaner klar bevorzugte, weiss er dennoch auf dem Drahtseil der israelisch-amerikanischen Beziehungen zu balancieren.
Keine Kontrolle über die eigene Regierungskoalition
Dies gilt nicht für Netanyahus Koalitionspartner. Kurz nachdem Netanyahu in Washington angekommen war, gab Itamar Ben-Gvir dem Nachrichtenportal Bloomberg ein Interview. In dem Gespräch sprach sich Israels rechtsextremer Minister für nationale Sicherheit für Donald Trump als amerikanischen Präsidenten aus und warf Joe Biden vor, die Interessen der Hamas zu bedienen.
Netanyahu selbst dankte zwar dem selbsterklärten Zionisten Joe Biden – doch verzichtete darauf, seinen Regierungspartner in die Schranken zu weisen. So klangen die lobenden Worte für den US-Präsidenten hohl. Zudem sendet es ein beunruhigendes Zeichen an die Amerikaner: Israels Ministerpräsident hat noch nicht einmal seine eigene Koalition unter Kontrolle.
Unter dem Strich blieb Netanyahus Charmeoffensive ergebnislos. Weder Demokraten noch Republikaner scheinen an einem fortgesetzten Krieg bis zum «totalen Sieg» über die Hamas interessiert zu sein, wie er dem israelischen Ministerpräsidenten vorschwebt. Sowohl Harris und Biden wie auch Donald Trump haben Netanyahu dazu gedrängt, den Gaza-Krieg so bald wie möglich zu beenden.
Die Wunschträume des Benjamin Netanyahu
Der israelische Ministerpräsident fokussierte sich bei seiner Visite in Washington aber in erster Linie auf den grössten Feind des jüdischen Staates: Iran. So nutzte er seine Rede vor dem Kongress, um für eine sogenannte Abraham-Allianz zu werben. Damit meint er eine Koalition von moderaten arabischen Staaten, den USA und Israel gegen Teheran. Netanyahu verglich diese Sicherheitskooperation sogar mit der Nato, die in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg von den Vereinigten Staaten ins Leben gerufen worden war.
«Um eine schlagkräftige Allianz zu formen, muss Saudiarabien an Bord sein», sagt der Aussenpolitikexperte Nimrod Goren von der israelischen Denkfabrik Mitvim im Gespräch. «Joe Biden hat sehr hart für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudiarabien und Israel gearbeitet. Doch ohne ein Signal Netanyahus, dass er zu einer Zweistaatenlösung bereit wäre, werden die Saudi nicht zustimmen.» Solange Israel nicht zu irgendeinem Kompromiss bei der Zweistaatenlösung bereit ist, bleibt Netanyahus Nato des Nahen Ostens wohl ein Wunschtraum.
Denn auch ein noch so kleines Bekenntnis zu einem palästinensischen Staat dürfte Netanyahu niemals über die Lippen kommen – nicht zuletzt, weil dies seine rechte Regierungskoalition zu Fall bringen würde. Nimrod Goren ist überzeugt: «Nur im Fall eines Regierungswechsels könnte Israel einen grossen Schritt in Richtung Frieden und tieferer regionaler Kooperation machen.»
Nach seiner Rückkehr nach Israel kann Netanyahu seine Koalitionssorgen allerdings vorerst beiseitelegen – zumindest für drei Monate. Seit Mittwoch befindet sich die Knesset, das israelische Parlament, in der Sommerpause. In dieser Zeit kann die Regierung nicht aufgelöst werden, da das Parlament nicht zusammenkommt. Falls Netanyahu tatsächlich ein Geiselabkommen mit der Hamas abschliessen will, wäre nun eine günstige Gelegenheit gekommen.







