Toleranz und Dialog sind essenziell für eine offene Gesellschaft. Doch die Kluft zwischen Ideal und Realität ist bisweilen gross.
«Awareness» greift um sich. Vor allem in linken Kreisen wird der Begriff immer beliebter, um damit Achtsamkeit und Offenheit zu signalisieren. Von der linksalternativen Reitschule in Bern über die Klimajugend zu den Studentenprotesten gegen den Krieg in Gaza – überall setzen die Verantwortlichen auf «Awareness-Konzepte».
Der Verein Zentralwäscherei, der als Zwischennutzung ein linksalternatives Lokal in städtischen Räumlichkeiten im Kreis 5 betreibt, hat dem seinigen eine ganze Wand gewidmet. Zuhören soll man, die Gefühle und Grenzen anderer respektieren. Kritik als Chance sehen.
So oder ähnlich sehen alle «Awareness-Konzepte» aus. Die Devise lautet: Wir sind ein sicherer Ort, jeder Mensch ist willkommen und soll sich wohlfühlen. Fehler sind in Ordnung, in der Zentralwäscherei freut man sich explizit über Feedback, um einen «zugänglicheren, inklusiveren, diskriminierungsfreien Raum zu schaffen».
Es sind schöne Worte. Allerdings verkommen sie schon beim geringsten Kratzen an der feinfühligen Fassade zur Makulatur. Von Rücksichtnahme, Lern- und Gesprächsbereitschaft oder der gemeinhin ins Feld geführten Inklusion merkt man dann wenig.
Ein steuerfinanziertes Echozimmer für Gleichgesinnte
In der Zentralwäscherei zeigt sich dieser Kontrast zwischen Schein und Realität.
Als politische Kulturinstitution habe man sich die Aufgabe gesetzt, «die Räumlichkeiten für verschiedene Perspektiven auf gesellschaftspolitische Fragen zur Verfügung zu stellen».
Was man in der Zentralwäscherei unter verschiedenen Perspektiven versteht, zeigt ein Blick auf das Veranstaltungsprogramm.
Raum gegeben hat der Verein etwa dem linksextremen Revolutionären Aufbau, der im Januar einen zweitägigen Anlass – das «Winterquartier» – in der Zentralwäscherei durchführte. Für den Verein ist die Linksaussen-Gruppierung, die vor allem mit Gewalt und Sachbeschädigungen von sich reden macht, eine der «diskursprägenden Stimmen in Zürich».
Ob die Verantwortlichen der Zentralwäscherei Vertreterinnen und Vertreter jenseits des linken Spektrums als ebenso «diskursprägend» willkommen heissen würden, ist mehr als fraglich. Was als Inklusion und Offenheit beworben wird, entpuppt sich letztlich als Bewirtschaftung der eigenen Bubble.
Wäre die Zentralwäscherei eine private, aus eigener Kraft finanzierte Institution, könnte man die Diskrepanz zwischen den propagierten Werten und der tatsächlichen Einseitigkeit nach wie vor schwierig finden. In einer offenen Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit hochgehalten wird, müssen aber sämtliche Haltungen Platz haben. Sie müssen, ganz im Sinne der Toleranz, ausgehalten werden.
Die Zentralwäscherei wird jedoch durch Steuergelder mitfinanziert – auch wenn die Verantwortlichen das nicht wahrhaben wollen. So argumentierte der Finanzverantwortliche unlängst, der Mieterlass in der Höhe von 100 000 Franken pro Jahr sei «lediglich ein Wert».
Zudem hat der Verein bisher insgesamt fast 800 000 Franken von der Stadt erhalten. Unter anderem für Umbauten, Begrünung und Musikprojekte.
Wer aber von der Allgemeinheit subventioniert wird, muss diese in ihrer Ganzheit berücksichtigen, dem ganzen Spektrum an politischen und gesellschaftlichen Meinungen offenstehen. Es geht nicht an, dass auf Kosten der Steuerzahler ein Echozimmer für einen Teil der Bevölkerung eingerichtet wird, der derart extreme Ansichten vertritt.
Grosse Worte stopfen keine Wissenslücken
Auch im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt wird in der Zentralwäscherei schnell klar, woher der Wind weht: Der Verein solidarisiere sich mit allen Unterdrückten und verurteile die «langanhaltende, illegale Besetzung» und die «Kriegsverbrechen, die in Gaza begangen» würden, heisst es in einem Instagram-Post vom Januar.
Der Auslöser der gegenwärtig laufenden Kriegshandlungen Israels in Gaza – die Terrorangriffe der Hamas auf Zivilisten in Israel mit Hunderten Toten, Verletzten und Entführten – findet keinerlei Erwähnung. Ebenso wie die vorgängigen Anschläge. Einer der komplexesten Konflikte unserer Zeit wird kurzerhand zu einer Episode von Gut gegen Böse zurechtgestutzt und Israel als Besetzermacht dargestellt.
Entsprechend unproblematisch findet es der Verein Zentralwäscherei, dass er kürzlich einem Redner des antisemitischen Netzwerks Samidoun eine Plattform gegeben hat. Mohammed Khatib ist der Europa-Koordinator der in Deutschland verbotenen Gruppierung.
In einer Stellungnahme der Zentralwäscherei gegenüber der Stadt heisst es dazu, Khatib habe von seinen Erfahrungen als Teil der Protestbewegung «gegen den Genozid in Palästina» berichtet. Es sei «keine Propagandaveranstaltung» gewesen.
Man fragt sich, ob die Verantwortlichen wissen, was die grossen Worte, mit denen sie um sich werfen, bedeuten.
Sie fordern Dialog, um ihn dann abzulehnen
Der Genozid-Vorwurf gegen Israel ist auch ein zentraler Aspekt der derzeitigen Studentenproteste an Schweizer Universitäten. Mitte Mai wurde nach den Hochschulen in Genf, Lausanne, Bern, Freiburg und Basel sowie der ETH auch die Universität Zürich (UZH) kurzzeitig besetzt. Zum Vorbild nimmt man sich die Proteste gegen den Vietnamkrieg an amerikanischen Universitäten.
In Genf forderten die Teilnehmenden der Protestaktion den Boykott von akademischen Institutionen in Israel. An der Uni Zürich wollten die Studenten den Boykott von israelischen Institutionen, die «in irgendeiner Form an dem Genozid in Gaza beteiligt sind», erwirken. Erst wenn ihre Forderungen erfüllt seien, würden sie abziehen.
Die Leichtfertigkeit, mit der Begriffe wie Genozid oder Völkermord im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt benutzt werden, erstaunt. Gemäss dem European Center for Constitutional and Human Rights spricht man von Völkermord, wenn Menschen allein wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe getötet werden, mit dem Ziel, die ganze Gruppe auszulöschen.
Man möchte die Studenten, die sich in Palästinensertücher hüllen und «From the river to the sea» rufen, fragen, wie sie die Angriffe der Hamas auf Israel, auch diejenigen, die vor dem 7. Oktober geschahen, einordnen.
Man möchte, kann aber nicht. Mit der Presse reden die Protestierenden nicht, auch das Dialogangebot der Unileitung lehnen sie ab – nur um beim Abzug «Wir wollen reden, UZH ist dagegen» zu skandieren.
Ein Dialog, so scheint es, ist also nur willkommen, wenn die Gegenseite sich beugt.
Kritik mit Steinen und Flaschen
In Bern hat die linksalternative Hybris bereits eine höhere Eskalationsstufe erreicht. Immer wieder kommt es rund um das autonome Jugend- und Kulturzentrum Reithalle zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei. Letztmals Anfang Monat, als Linksextreme die Einsatzkräfte in einen Hinterhalt lockten und sie mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern bewarfen. Elf Polizisten wurden dabei verletzt.
Danach liessen die Krawallanten verlauten, die Aktion sei die «Konsequenz unserer Kritik an diesem System und seinen Verbündeten». Zudem grüsst man die RAF-Terroristin Daniela Klette. Seit ihrer Festnahme im Februar hängt über dem Eingang der Reitschule ein Solidaritätsbanner.
Die Linken wissen, dass sie recht haben
Überraschend ist das Gebaren der Linksextremen nicht. Sie machen kein Hehl daraus, dass sie den Staat umwälzen wollen, auch gewaltsam.
Problematisch ist aber auch das Verhalten einiger linker Vertreter in den Stadtparlamenten des Landes. In der rot-grün dominierten Stadt Zürich ist es schon fast Standard, sich auf das hohe Ross der moralischen Überlegenheit zu schwingen. Gegenstimmen unerwünscht.
Die politische Linke stilisiert sich zur Retterin der Minderheiten. Sie schmückt sich mit den Schlagwörtern des Moments, besteht auf sprachliche Akrobatik wie «menstruierende Personen» statt Frauen oder meint, mit genderdiversen Strassenschildern die Welt verbessern zu können.
Und wie die Welt eine bessere wird, weiss offenbar niemand so gut wie Rot-Grün. Doch statt einem differenzierten Ansatz wird je länger, je mehr ein Weltbild propagiert, wo klar in Gut und Böse unterteilt wird. Für Grautöne bleibt kein Platz.
So verbessert man die Welt nicht, sondern trägt dazu bei, dass sich die Fronten weiter verhärten. Statt zur Stärkung der Gesellschaft als ganzer beizutragen – wie es die Linken vorgeben –, wenden sie sich von einem Teil der Bevölkerung ab.
Ein ehrlicheres Motto für die gegenwärtige Politik der Linken wäre: «Do as I say, not as I do» (zu Deutsch: Tu, was ich sage, nicht, was ich tue).
Vielfalt wird im Keim erstickt
Auch bei Stadtzürcher Institutionen liegt zwischen dem Anspruch an Diversität und der Realität eine grosse Kluft. Das städtische Debattierhaus Karl der Grosse beschreibt sich etwa als «Plattform für den Meinungsaustausch».
Die Meinungen, die neben dem Grossmünster ausgetauscht werden, unterscheiden sich aber bestenfalls in Nuancen. Das Programm umfasst vor allem Themen, die auch auf den Flugblättern linker Parteien vorkommen könnten.
Diese Tendenz schlug sich auch in der diesjährigen Ausgabe der Winterreden im «Debattierhaus» nieder. Wer sich bewerben wollte, musste beispielsweise trans, nonbinär oder intergeschlechtlich sein, über kein hohes Einkommen verfügen oder ledig sein.
Diversität wird in Zürich und andernorts nach einem derart engen Raster definiert, dass man die Vielfalt im Keim erstickt, statt sie zu fördern.