Endlich Schluss mit Schuhschachtel-Denken. Der Architekt Peter Haimerl zeigt, dass das Rechteck als Grundfläche nicht die einzige Möglichkeit ist, sich einen bewohnbaren Raum vorzustellen.
Wenn man an ein archetypisches Haus denkt, dann denkt man meistens an ein Spitzdach, einen Schornstein, aus dem es raucht, ein paar Fenster, die das Mauerwerk durchbrechen. Doch man kann Behausung auch anders denken als in vier Wänden. Der Architekt Peter Haimerl hat in München Riem das erste Wabenhaus fertiggestellt. Es zeigt, dass es auch noch ganz anders geht.
In deutschen Grossstädten herrscht Wohnungsmangel, vor allem bezahlbarer Wohnraum ist zu wenig vorhanden. Die Wohnriegel, die dann geplant werden, haben mit einer organischen Entwicklung von Stadt oder allgemeiner Menschenfreundlichkeit meist wenig zu tun. Auch weil die Grundstückspreise immer weiter steigen, bleibt weniger Geld, um sich über das, was man dann auf das Grundstück stellt, ausreichend Gedanken zu machen.
Es ist nicht so, als gäbe es die mutigen und innovativen Architekturbüros nicht. Sie werden nur zu selten beauftragt. Trotzdem gibt es immer wieder Projekte, die leuchtturmhaft zeigen, wie es auch sein könnte, wenn man Bauherren hat, die die Vorstellung davon, wie gewohnt werden soll, aus der Schuhschachtel befreien.
So funktioniert das bei Peter Haimerl und dem Wabenhaus. Jede Wohneinheit eine Wabe. Keine geraden Wände, keine Stellfläche, keine viereckigen Fensterlöcher. Dafür sind die Fenster sechseckig und gehen über die gesamten sechs Meter Breite jeder einzelnen Wabe. Zur Möblierung braucht es extra angefertigte Einbauten, die sich perfekt einpassen in die ungewöhnliche Form. Sie werden als «passgenaue Benutzeroberfläche» beschrieben, die man an seine persönlichen Bedürfnisse anpassen kann und die dann mit dem 3-D-Drucker produziert werden.
Man kann sich auf dem Boden ansiedeln, auf halber Höhe oder direkt unter der Decke – alles, ganz wie man es sich wünscht und wie man denkt, dass es zu einem passt. Man kann den Raum in all seinen drei Dimensionen denken, und so eröffnet sich dann doch recht schnell eine ungeahnte Vielzahl von Möglichkeiten, wie man diese Waben bewohnen und sein Leben in ihnen gestalten könnte. Auch die Grössen der Waben und das Mass ihrer Verbundenheit lassen sich flexibel bestimmen und individuell anpassen. So können sowohl einzelne Personen als auch grosse Familien Platz finden.
Man kann sich auf dem Boden ansiedeln, auf halber Höhe oder direkt unter der Decke. Und die Grössen der Waben bieten sowohl einzelnen Personen als auch grossen Familien Platz. Zur Möblierung braucht es extra angefertigte Einbauten.
Anders denken, anders leben
Doch wer lässt sich auf so ein Wohnexperiment ein, in das man, bei Fertigstellung, den geliebten Wäscheschrank der Grossmutter nicht mehr mitnehmen kann, weil es schlicht keine Stellfläche gibt? Im Münchner Fall ist das eine Wohngenossenschaft, die Wogeno. Sie wagt das Experiment, einmal auszuprobieren, ob neue Räume nicht auch das Denken, das Leben und Arbeiten anders formen oder andere Arten davon vielleicht sogar erst ermöglichen könnten.
Es ist eines der grossen Fragezeichen unserer Zeit, dass der gebildete Grossstadtbewohner immer noch davon träumt, in einem schicken Altbau aus dem 19. Jahrhundert zu leben. Also in Wohnungen, die in ihrer Struktur eine Gesellschaft widerspiegeln, in der man die Wirtschaftsräume möglichst unsichtbar in den hinteren, dunklen Teil der verwinkelten Wohnungen verbannte, wo sich auch das Personal möglichst unauffällig aufzuhalten hatte. Dabei wird immer wieder suggeriert, dass das heimische Glück nirgendwo anders als in luftigen Wohnküchen, in denen alle gemeinsam um eine Kücheninsel hocken, zu finden wäre.
Doch auch das ist im Wabenhaus anders gelöst. Die Waben greifen ineinander, und man geht von einer in die andere, die Treppen ziehen sich von einer Wandschräge in die andere und schaffen viele kleine Nischen und Zwischenräume. Eine Besonderheit, die man – gerade wenn es um bezahlbaren Wohnraum geht – oft vergisst, ist der Balkon. Jede der 15 Wohneinheiten, die sich entlang eines einzigen Treppenhauses auffächern, hat einen eigenen, etwas vorgelagerten Aussenbereich.
Gerade in der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie sehr dieser nur vermeintliche Luxus darüber entscheidet, ob man es wirklich lange und gut in seiner Wohnung aushalten kann. Erst da erkannte man, wie wichtig ein zusätzlicher Aussenraum ist, der nicht nur die Sphären zwischen Innen und Aussen auflöst, sondern mit wenigen Mitteln das Gefühl eines grossen Luxus vermitteln kann. Die Nettokaltmiete für all das ist mit zwölf Euro pro Quadratmeter für Münchner Verhältnisse geradezu günstig. Das Wohnen wird hier also nicht als Möglichkeit betrachtet, aus einer Notwendigkeit Profit zu schlagen, sondern als ein soziales Experiment, auf das man sich einlassen muss.
Die Treppen ziehen sich von einer Wandschräge in die andere. Es gibt Nischen und Zwischenräume. Und jede Wohneinheit hat einen eigenen Balkon.
Gegen das Gerade
Die Idee, sich den geraden Wänden entgegenzustellen, ist nicht neu und ist auch nicht von Peter Haimerl erfunden worden. Der sogenannte Supermodernist Claude Parent hat sich bereits in den 1970er Jahren mehr als erfolgreich gegen das Gerade gewehrt. Aus seinem eigenen Haus hatte er alle geraden Flächen entfernt und stattdessen Schrägen und Rampen einbauen lassen, ausserdem wurden alle Möbel auf die Strasse geschmissen. Einer seiner Leitsätze war: «Wir sind vollkommen übermöbliert.»
Was einem zuerst verrückt erscheinen mag, sind Fragen, die das Wabenhaus in ganz ähnlicher Weise stellt. Wie den Platz bewohnen, wie sich gruppieren, um gemeinsam Zeit zu verbringen, in einer Wohnform, die diese Aktivitäten freier und spielerischer interpretiert? In Claude Parents Familie wurde im Liegen gegessen und so durch die Form des Hauses nicht nur die Idee von Wohnen, sondern auch Manieren und Etikette herausgefordert.
So extrem setzt Haimerl diese Idee nicht um. Er lässt den Bewohnern des Wabenhauses einen geraden Boden, aber es sind doch Ansätze davon zu erkennen, den Raumbegriff und vor allem auch die Möblierung dieses Raumes prinzipiell infrage zu stellen. So wie es langsam Zeit wird, sich grundsätzlicher damit zu beschäftigen, wie wir wohnen wollen und welche dieser Formen eigentlich am zeitgemässesten und menschenfreundlichsten – und nicht nur am lukrativsten – ist.
Ähnlich viel Bewegung sahen auch die Metabolisten in ihren Entwürfen. Die Idee ist in den 1960er Jahren in Japan entstanden. Man dachte, die Architektur sollte sich wie der Kreislauf des Lebens oder der Jahreszeiten immerzu verändern dürfen. Die sich aus sich ändernden Bedürfnissen ergebenden Anforderungen sollten die Menschen auch an ihre Behausung stellen. Die Häuser sollten sich flexibel erweitern oder verkleinern können, nach einer simplen Modulbauweise. Ganz so weit wagt sich Peter Haimerl dann doch nicht vor, aber eben doch weiter als viele andere Bauherren dieser Tage.
Weshalb das Wabenhaus wohl schon jetzt als ein Projekt mit Vorbildcharakter betrachtet werden kann. Vielleicht lassen sich all die Wohnriegel-Bauherren von dem Wabenhaus inspirieren und trauen sich, wenn es um die Neuschaffung und vor allem auch die Nachverdichtung von Wohnraum geht, ein Haus, eine Wohnung auch einmal anders zu denken als immer nur in der traditionellen Idee von vier Wänden. Denn so wie das Leben sich verändert, müssen sich auch unsere Wohnräume verändern dürfen.