Marine Le Pen und weitere Angeklagte des früheren Front national sollen EU-Gelder in Millionenhöhe veruntreut haben. Es drohen empfindliche Strafen bis hin zum Verbot politischer Betätigung. Doch die Oppositionsführerin will den Prozess als Bühne nutzen.
Haben Marine Le Pen und 25 weitere Angeklagte öffentliche Gelder in Millionenhöhe unterschlagen? Das ist der Vorwurf, der die dreimalige Präsidentschaftskandidatin und ihre Partei seit langem belastet und der jetzt, nach neun Jahren Ermittlungsarbeit, vor einem Pariser Strafgericht verhandelt wird.
Bei dem Prozess geht es um die Scheinbeschäftigung von Assistenten im EU-Parlament. Le Pen und andere Personen aus dem Umfeld des früheren Front national (heute: Rassemblement national) sollen den Steuerzahler «vorsätzlich und systematisch» betrogen haben, wie es in der Anklage heisst. Es drohen hohe Geldstrafen, sogar Haftstrafen von bis zu zehn Jahren. Auch könnte Le Pen das Recht verlieren, bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu kandidieren, womit ihre politische Existenz auf dem Spiel stünde.
Demonstrativ gelassen
Doch bei ihrer Ankunft vor dem Gericht liess sich die 56-Jährige am Montag nichts anmerken. «Ich bin sehr gelassen», sagte Le Pen im Beisein ihrer Anwälte. «Wir haben weder gegen politische Regeln noch gegen die Vorschriften des Europäischen Parlaments verstossen.»
Die Anschuldigungen beziehen sich auf die Jahre 2004 bis 2016. In diesem Zeitraum sollen die Europaabgeordneten des Front national ein System aufgebaut haben, bei dem parlamentarische Assistenten mit EU-Gehältern bezahlt wurden, obwohl sie in Wahrheit für die eigene Partei in Paris tätig waren. Darauf aufmerksam wurde im Jahr 2015 der damalige Präsident des Europaparlaments Martin Schulz. Er schaltete die Antibetrugsbehörde Olaf ein, und auch die Pariser Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen auf.
Die Untersuchungen ergaben, dass etwa Catherine Griset, damals Le Pens juristische Assistentin, in einem Jahr nur rund 12 Stunden Präsenz in Strassburg aufwies und Le Pens Leibwächter Thierry Légier dort überhaupt nie auftauchte. Seine Beschäftigung für das EU-Parlament bezeichneten die Ermittler als «fiktiv». Um den Betrug zu vertuschen, sollen einige Angeklagte Urkunden gefälscht haben. In Brüssel schätzt man den entstandenen Schaden auf 6,8 Millionen Euro.
Im vergangenen Jahr zahlte Le Pen 330 000 Euro davon zurück. Das sollte den Summen entsprechen, die sie Griset und Légier gezahlt hatte. Ihre Partei betonte aber stets, dass dies kein Eingeständnis eines Fehlverhaltens sei. Man habe nur von den «parlamentarischen Freiheiten» Gebrauch gemacht, hiess es, und sowieso seien die Assistenten keine Beamten, sondern frei in ihren Entscheidungen.
Neben Le Pen nahmen in Paris viele frühere Weggefährten auf der Anklagebank Platz. Etwa der Holocaustleugner Bruno Gollnisch, einst die Nummer zwei des Front national, der Europaabgeordnete Nicolas Bay, der sich später dem rechten Konkurrenten Eric Zemmour anschloss, oder Louis Aliot, Le Pens Ex-Lebenspartner. Angeklagt ist auch ihr Vater Jean-Marie Le Pen. Der 96-jährige Gründer des Front national musste selber allerdings nicht vor Gericht erscheinen, er gilt als senil und nicht mehr zurechnungsfähig.
Seine Tochter liess die Partei 2018 umbenennen, um sich von radikalen Weggefährten zu trennen und für breite Wählerschichten attraktiv zu werden. Diese Strategie ist aufgegangen. Laut einer neuen Umfrage würden derzeit 35 Prozent der Franzosen für Le Pen stimmen. Bei den Wahlen im Juni erhielt das Rassemblement national die meisten Stimmen und landete nur deswegen auf Rang drei, weil es taktische Absprachen zwischen dem linken und dem zentristischen Lager von Präsident Emmanuel Macron gegeben hatte.
Im Zweifel ein Justizopfer
Doch muss Le Pen nun eine Verurteilung befürchten und ihre Präsidentschaftspläne beerdigen? Es gibt wohl einige belastende interne E-Mails, die nahelegen, dass der damals hochverschuldete Front national bewusst auf Einsparungen zum Nachteil des EU-Parlaments abzielte. Die Dokumente zeigen offenbar auch, dass Le Pen dieses System der Parteifinanzierung persönlich kontrollierte.
Beim Rassemblement national gibt man sich dennoch selbstbewusst und verweist auf den Fall von François Bayrou, einem Macron-Verbündeten. Auch dieser musste sich wegen Scheinjobs im EU-Parlament rechtfertigen und wurde im Februar freigesprochen (während seine Mitangeklagten zu geringen Haftstrafen verurteilt wurden).
Le Pen erklärte am Montag, an möglichst vielen Prozesstagen anwesend sein zu wollen. Die Oppositionsführerin will den Prozess, wie französische Beobachter kommentieren, als Bühne nutzen. Drohe ihr tatsächlich eine Verurteilung, könne sie sich immer noch als Justizopfer präsentieren und argumentieren, dass das Verfahren gegen sie politisch motiviert sei. Voraussichtlich Ende November soll das Urteil fallen.