Der ehemalige Diplomat und Topmanager blickt besorgt auf den Zustand Chinas. Die Wirtschaft schwächelt, und alle müssen sich dem Kurs von Präsident Xi unterordnen. Die De-Risking-Strategie des Westens hält Sigg für richtig.
Herr Sigg, soeben ist der Nationale Volkskongress in Peking zu Ende gegangen. Zum ersten Mal seit dreissig Jahren mochte sich die Führung nicht mehr Journalistenfragen stellen. Wie erklären Sie sich das?
Es gibt verschiedene Interpretationen, wieso die traditionelle Pressekonferenz des Ministerpräsidenten abgesagt wurde: Die eine ist, dass man nunmehr einzig Staats- und Parteichef Xi Jinping ein Forum geben will. Eine andere: Es läuft nicht so gut, wie es sich die Führung wünscht, und darum will man sich jetzt nicht rechtfertigen müssen. Die Kommunistische Partei (KP) hat auch nicht ein präzises Rezept dafür, wie sie aus der gegenwärtig schwierigen Wirtschaftslage kommt. Zudem gilt in China die Regel: Man entzieht sich einem Diskurs, sofern nicht gute Nachrichten zu verkünden sind.
Welche Interpretationsmöglichkeit halten Sie für die plausibelste?
Ich denke, es ist eine Kumulation dieser Faktoren – und ja, es hat nur noch wenig Platz für andere Figuren als Präsident Xi.
Wird China totalitärer?
Ja, ich nehme das im Moment so wahr. Präsident Xi hat sich auf einen Kurs festgelegt, dem alles unterzuordnen ist. Aus Sicht des Präsidenten hat sich ein Zeitfenster geöffnet, das China die Gelegenheit bietet, zur globalen Führungsmacht aufzusteigen. Das wird nach Meinung der Führung nur gelingen, wenn sich alle hinter Präsident Xi und die KP scharen. Es gibt keinen Raum für Dissens. Dieser Kurs ist primär ideologisch geprägt, wirtschaftliche Aspekte sind sekundär.
Chinas Volk schien die Unfreiheit zu akzeptieren, solange die KP mehr Wohlstand garantierte. Jetzt, wo die Wirtschaft schwächelt, gerät dieser Gesellschaftsvertrag ins Wanken. Was heisst das für Chinas Führung?
Sie muss eingestehen, dass unter ihrer Führung ein grosses Problem entstehen konnte. Das ist die erste Schwierigkeit. Und sie selbst muss einen Weg finden, wie sie diesen Problemen begegnet – ein Balanceakt für die Partei. Eine Methode heisst: ausblenden. So wurde zum Beispiel die Publikation der Arbeitslosenstatistik der Universitäts- oder Schulabgänger gestoppt. Oder Peking stellt einen Zusammenhang her zwischen Wirtschaftslage und den westlichen Beschränkungen bei Technologie-Importen.
Sie meinen, dass sich Peking als Opfer westlicher Sanktionen darstellt?
Genau. China spitzt die Rhetorik schon seit einiger Zeit stark zu. Der Westen wolle den Aufstieg Chinas mit allen Mitteln verhindern, heisst es dann.
Glaubt die Bevölkerung dieses Narrativ? Sie sagten einmal, dass ein grosser Teil der Chinesinnen und Chinesen vermutlich hinter der Führung und der KP stehe. Gilt das noch?
Ja. Ich denke, das ist immer noch so. Chinas Medien wiederholen das erwähnte Narrativ täglich. Es wird der Bevölkerung eingebleut, dass der Westen China zahlreiche Steine in den Weg lege – ist ja auch so. Darum hat sich China auch zum Sprachrohr des globalen Südens gemacht. Die Botschaft lautet: Erstens steht ein wesentlicher Teil der Welt hinter dem chinesischen Entwicklungsmodell, auch wenn sich der Westen gerade von uns abwendet. Zweitens kämpfen wir wegen der Abwendung des Westens mit Schwierigkeiten, die man nicht uns in die Schuhe schieben kann.
Im Westen herrscht vielmehr der Eindruck, dass sich China abschottet. Als Sie 1979 für Schindler das erste Joint Venture zwischen China und einem ausländischen Unternehmen einfädelten, war das Klima völlig anders. China bewegte sich auf die Aussenwelt zu. Woher kommt diese Kehrtwende?
Deng Xiaoping (Chinas bedeutendster Reformer, Anm. d. Red.) sagte, sein Land brauche ausländische Technologien und Investitionen, den Zugang zur westlichen Welt, die wirtschaftlich weit voraus war. In den Verhandlungen haben mir die Chinesen aber auch gesagt: «Jetzt müssen wir Güter von euch kaufen.» In hundert Jahren wird es umgekehrt sein. Sie hatten ein ganz anderes Selbstbewusstsein als die übrigen Entwicklungsländer. Denn damals war China auf dem Stand eines Entwicklungslandes, in jeder Hinsicht.
Ihre damaligen Gesprächspartner hatten recht. Chinas Unternehmen sind heute führend bei Elektroautos oder in anderen Industriesektoren . . .
Ja, in manchen Bereichen sind die Chinesen total autonom, in anderen sind sie uns gar voraus. Niemand konnte das vor 45 Jahren so antizipieren. Doch der Wille, zur Nummer eins aufzusteigen, ist sehr ausgeprägt. Sie wollen jene dominante Position auf der Welt zurück, die sie bis ins 19. Jahrhundert schon einmal hatten. Chinas Führung ist überzeugt, dass dem Land diese Position zusteht.
In Europa heisst das Schlagwort «De-Risking». Die westlichen Länder wollen weniger abhängig von China sein. Halten Sie das für eine gute Strategie?
Für die westliche Welt ist das derzeit eine vernünftige Strategie. Denn niemand kann antizipieren, ob westliche Länder dereinst unter Führung der USA scharfe Sanktionen gegen China verhängen werden. Denken Sie an die grossen Konfliktfelder wie Taiwan oder das Südchinesische Meer. Als westlicher Konzern können Sie nicht warten, bis die Lage eskaliert – ein Lehrstück aus dem Krieg in der Ukraine. Wenn Sie die Wahrscheinlichkeit als einigermassen hoch betrachten, dann müssen Sie sich auf dieses Szenario vorbereiten.
Reagiert China darauf?
Spannend ist, dass China ähnlich vorgeht. Zahlreiche chinesische Firmen lassen ihre Produkte zum Beispiel in Vietnam zusammenbauen. In der amerikanischen Importstatistik tauchen sie dann als vietnamesische Produkte auf. Die De-Risking-Strategie des Westens hat China dazu bewogen, auch dort zu investieren, wo der Westen investiert.
Lassen Sie uns noch ein anderes Thema anschneiden: Schon als Manager und Diplomat beschäftigten Sie sich intensiv mit chinesischer Gegenwartskunst. Wenn wir diese als Seismograf gesellschaftlicher Stimmungen betrachten, was lässt sich da ablesen?
Es finden in der Kunstszene sehr rigide Kontrollen statt. Früher begannen sie erst, wenn Kunst in den öffentlichen Raum trat. Aber seit ungefähr drei Jahren kommt es vor, dass die Behörden in Ateliers marschieren und den Künstlern klarmachen, was geht und was nicht. Betreffen Werke Politiker an der Macht oder generell solche, die noch leben, ist eigentlich gar nichts möglich. Die Darstellung von Nacktheit ist plötzlich auch ein delikates Thema. Und was immer «schlechte Stimmung» verbreitet. Vor ein paar Jahren war man viel entspannter.
Driftet die Kunstszene wieder in den Untergrund ab, so wie Sie es in den 1980er Jahren erlebt haben?
In Peking hat der Wind gedreht. Lange vergrösserte sich der Freiheitsraum kontinuierlich, und die Künstler konnten ihn mit ihrer Arbeit ausfüllen. Das ist vorbei und hängt auch mit den Erwartungen an die Kunst zusammen. Was soll Kunst in der Gesellschaft? Die chinesischen Führer sind mit einem traditionellen Kunstbild aufgewachsen, einem Paradigma, das Schönheit und Harmonie hervorhebt. Gegenwartskunst funktioniert anders. Sie ist kritisch, analytisch und soll neue Denkräume öffnen. Dafür gibt es keinen Platz mehr, weil die Partei diese Räume besetzt. Die Partei will eine bestimmte Projektion dessen, was China ist, rundum kontrollieren. Da kommt ihr die Gegenwartskunst oft in die Quere.
Sie haben sich 2020 entschieden, einen grossen Teil Ihrer Sammlung einem neuen Museum in Hongkong zu vermachen. Weil in der ehemaligen britischen Kronkolonie ein freieres Klima herrschte. Jetzt ist aber die Luft auch in Hongkong dünner geworden.
Das ist so, ja.
Wie würden Sie den Unterschied beschreiben zwischen Hongkong und dem Festland?
Wesentlich ist, dass die 2022 abgetretene Regierungschefin Carrie Lam noch im chinesischen Fünfjahresplan durchsetzen konnte, dass Hongkong als kulturelle Brücke zwischen China und der Aussenwelt fungiert. Das öffnet einen Spielraum, die Regeln etwas freier zu interpretieren als in Festlandchina. Allerdings können wir nicht genau abschätzen, wie gross dieser Spielraum ist.
Im Moment entstehen die Ausführungsbestimmungen für das Gesetz für nationale Sicherheit. Im Entwurf wurde zum Beispiel «soft resistance» als Straftatbestand diskutiert. Nur weiss niemand, was genau darunter zu verstehen ist. Man verbindet dieses Gesetz nicht primär mit Kunst, sondern denkt an Demonstrationen und Sezessionsbestrebungen. Doch umfasst es letztlich alle Lebensbereiche, also auch die Kunst. Und darum ist die Auslegung, was man künftig noch machen kann und was nicht, ziemlich fluid.
Sie unterstützen chinesische Gegenwartskünstler. Machen Sie da aus Sicht des Regimes nicht mit potenziellen Nestbeschmutzern gemeinsame Sache?
Schwer zu sagen. Aber man lässt mich gewähren. Ich wurde noch nie von der Obrigkeit in irgendeiner Form belangt. Andererseits hat das offizielle China auch nichts wirklich unternommen, um meine Sammlung in ein Museum auf dem Festland zu holen.
Müssen Sie aufpassen, was Sie sagen? Sie haben zum Beispiel ein Beratermandat bei der China Development Bank.
Nein, mir wurde das nie nahegelegt. Ich profitiere vielleicht von meinem früheren Status als erster ausländischer Investor. Was heute selbstverständlich erscheint, nämlich Geld und Technologie nach China zu bringen, wurde damals als eine Verrücktheit angeschaut. China brauchte ein Modell für ausländische Investoren. Schindler und ich – durch das Konstrukt selbst und Vorträge in aller Welt – haben das geliefert. Das gab mir Status und eine gewisse Rückendeckung. Aber diese Sonderstellung könnte ich mit unbedachten Äusserungen auch wieder verlieren.
China-Pionier und kritischer Beobachter
Der Luzerner Uli Sigg startete seine Berufskarriere als Wirtschaftsjournalist. Für den Aufzugshersteller Schindler handelte er das weltweit erste westliche Joint Venture in China aus. Von 1995 bis 1998 war er Schweizer Botschafter für die Volksrepublik China, Nordkorea und die Mongolei. Der 78-Jährige gilt als einer der wichtigsten Sammler chinesischer Gegenwartskunst. Dem 2021 eröffneten Museum M+ in Hongkong vermachte der frühere Spitzenruderer rund 1500 Exponate.