Die irische Bestseller-Autorin blickt mit «Intermezzo» in eine heillose Gegenwart, wo die Liebe mehr Trost als Lust verspricht.
Fangen wir bei einem wichtigen Thema an: beim Sex. Wenn Sally Rooney darüber schreibt, dann so, dass er wie eine Sprache der Sprachlosigkeit wirkt. Stecken zwei Menschen in den Lebensdingen fest, die sie voneinander trennen, dann stellt sich oft eine stille Übereinkunft ein, dass man es miteinander tun wird. Es bedeutet nicht viel, aber zugleich bedeutet es alles.
In den Büchern der irischen Schriftstellerin ist Sex eher Trost als Lust, und es ist immer ein bisschen, als würde ein keusches 19. Jahrhundert pornografisch in die Gegenwart herüberwinken. Die Zeiten sind verdorben, aber die Menschen sind es noch nicht.
Der literarische Superstar stellt also ihren Mit-Millennials eine konservative Phantasie ins Bücherregal und hatte bisher mit Romanen wie «Gespräche mit Freunden», «Normale Menschen» und «Schöne Welt, wo bist du» unfassbaren Erfolg. Dass die erst 33-jährige Sally Rooney Millionen von Büchern verkauft hat und dass eine ganze Merchandise-Industrie an ihrem Erfolg mitarbeitet, kann man ihr nicht zum Vorwurf machen. Umso weniger, als in diesem Werk ein doppelt eingelöster Anspruch steckt: das Komplizierte nicht komplizierter zu beschreiben als nötig und trotzdem nicht in Oberflächlichkeit zu versinken. Kurz gesagt, ist das alles schon sehr gut gemacht.
Ohne Xanax geht nichts
«Intermezzo» heisst der neue Roman, der es den echten Fans wert war, sich in New York oder London eine Nacht lang die Beine in den Bauch zu stehen, um bei extra früh öffnenden Buchhandlungen die ersten Exemplare zu erwischen. Gemessen am Bisherigen, ist «Intermezzo» ein angenehm sprödes Buch. Melancholische Menschen ziehen wie einsame Planeten durch einen nasskalten irischen Herbst. Wieder gibt es viel Sex, der etwas rührend Achtsames hat. In seinen Armen ist die Einsamkeit schon fast keine mehr.
«Intermezzo» ist die Geschichte zweier Brüder, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Peter ist zehn Jahre älter als Ivan. Den 22-Jährigen, der nach einem Physikstudium nur Gelegenheitsarbeiten hat, behandelt er wie ein Kind, dabei befindet sich Peter eher selbst in einem Stadium lebenspraktischer Unreife. Er trinkt zu viel und käme ohne sein Xanax gar nicht durch den Tag. Als Dubliner Anwalt in Menschenrechtsfragen hat er einen honorigen Job, funktioniert aber längst nicht mehr tadellos. Und dann gibt es in seinem Leben noch die viel zu junge Naomi, die zur Hausbesetzerszene gehört und ein bisschen auf sein Geld angewiesen ist.
Während das Intermezzo in der Musik oft ein leichtes Zwischenspiel ist, bedeutet es im Schach etwas ganz anderes. Das Intermezzo ist hier ein unerwarteter Zug, der die Strategien des Gegners zunichtemachen und spielentscheidend sein kann. Ivan ist ein Schach-Nerd, und die Begriffsbedeutung aus seinem Spiel liegt über der Handlung von Sally Rooneys Roman.
Der Krebstod des in der Slowakei geborenen Vaters der beiden Brüder ist wie ein Intermezzo, ein überraschender Schachzug des Schicksals. Nicht dass das Verhältnis sehr eng gewesen wäre, aber plötzlich stellt sich für Peter und Ivan die Frage, wer sie sind. Im Grunde ist der ganze Roman «Intermezzo» eine grosse Choreografie, ein wechselseitiges Abtasten, ein Vermessen von emotionalen Abständen.
Sally Rooney hat dafür eine eigene Sprache erfunden, in der die Nervosität dieses Vorgangs vibriert. Peters oberflächliche Ungeduld trifft auf die bedächtige Langsamkeit Ivans. In den Kapiteln, die Peter gewidmet sind, herrscht das Stakkato vor. Die gehetzten Sätze können ihr eigenes Ende kaum erwarten. Bei den Passagen, in denen es um Ivan geht, wirkt die Sprache genauso umständlich wie der, den sie beschreibt.
So ist man ausserhalb der Köpfe dieser Menschen und gleichzeitig in ihren Gedanken. Ein von Zoë Beck wunderbar ins Deutsche übertragener Kunstgriff, der das Erzählte so authentisch macht und den Leser auch noch dann bei der Stange hält, wenn es um Nichtigkeiten geht. Das ist detailreich präzise wie Karl Ove Knausgård, aber ohne die eitlen Interferenzen eines Ichs.
Peter findet Ivan gefühlskalt und «irgendwie autistisch», Nachsatz: «Wobei man das heute vermutlich nicht mehr sagen darf.» Im Roman allerdings findet Ivan nach dem Tod des Vaters zu ganz neuen Ausdrucksformen seiner Gefühle. Bei einem Schachturnier in der irischen Provinz lernt er die vierzehn Jahre ältere Margaret kennen. Sie hat ihren Mann, einen Alkoholiker, verlassen, und ist von ihrer unwillkürlichen Hinwendung zum jungen Schachspieler mit der Zahnspange selbst überrascht.
Klischierte Lolita
Mit linkischen Bewegungen finden die Körper der beiden in einem feuchtkalten Hotelzimmer zueinander. Das Banale, das One-Night-Stands haben können, gibt es hier nicht. Was hier geschieht, ist heiliger Ernst unter Neonlampen. Wenn die beiden ein paar Tage später einen Ausflug an die irische Küste machen, dann ist das ganz filmisch gemacht. Zwischen den beschlagenen Scheiben ihres Autos sagt Ivan zu Margaret: «Mein schönes rettendes Ufer.»
Selbstrettung bei einem anderen zu suchen, gelingt Peter deutlich schlechter, und ein bisschen merkt man es Sally Rooneys Roman auch an, dass er die weniger interessante Figurenvariante ist. Einen wie ihn gibt es in der Literatur schon zu oft. Der Gestresste, aber Erfolgreiche, der sich nach einem langen Arbeitstag ein Glas eingiesst. Der sich mit leichtem Überdruss geschmeichelt fühlt, dass ihn die Frauen mögen. Da ist viel Klischee.
Auch bei der jungen Naomi, der sexuell Unterwürfigen, der Rooney kein Lolita-Accessoire versagt. Mit kurzem Röckchen und kurzem Kaschmir-Top zieht die unbehauste Hausbesetzerin bei Peter ein. Peter hängt allerdings noch in den Gefühlen zu seiner Jugendliebe Sylvia fest. Auch hier ein Abtasten nach Möglichkeiten des Trostes. Lange Gespräche mit Sylvia, so wie es die langen Gespräche Ivans mit Margaret gibt.
In Sally Rooneys «Intermezzo» sieht man lauter Unerlöste, und es ist schon ein Kunststück des Romans, dass er selbst etwas Erlösendes hat. Es gelingt ihm, die heillose und geborgenheitssehnsüchtige Gegenwart an den Abständen der Menschen zueinander zu vermessen.
Sally Rooney: Intermezzo. Roman. Aus dem Englischen von Zoë Beck. Claassen-Verlag, Berlin 2024. 496 S., Fr. 32.–.