Die Nato befürchtet, dass der Kreml seine hybriden Angriffe gegen den Westen verstärken wird. Drei mutmassliche Attacken zeigen, weshalb diese sich nur schwer verhindern lassen.
In der estnischen Hauptstadt Tallinn wird das Auto des Innenministers von Unbekannten attackiert. Auf einer der wichtigsten Bahnstrecken Schwedens entgleisen zwei Güterzüge. Und die finnische Fluggesellschaft Finnair muss mehrere Flüge einstellen, weil immer wieder GPS-Signale gestört werden.
Im Norden Europas häufen sich seit einigen Monaten seltsame Vorfälle. Auf den ersten Blick scheinen sie nichts miteinander zu tun zu haben, doch die Indizien zeigen in dieselbe Richtung: nach Moskau. Europäische Geheimdienste warnen davor, dass der Kreml seinen hybriden Krieg gegen den Westen verschärfen wird. Auch die Nato ist alarmiert.
Drei mutmassliche Attacken zeigen, wie hybride Kriegsführung funktioniert – und weshalb sich solche Angriffe nur schwer verhindern lassen.
Fall 1: Angriff auf das Auto des estnischen Innenministers
Im Dezember schlagen Unbekannte die Scheiben eines silbrigen VW Passat im Tallinner Stadtteil Kristiine ein. Das Auto gehört dem estnischen Innenminister Lauri Läänemets. Die Polizei verhaftet zehn Verdächtige. Im Februar gibt der estnische Inlandsgeheimdienst ISS bekannt: Bei den Tätern soll es sich um russische Agenten handeln.
Die Verdächtigten hatten verschiedene Aufgaben. Sie sammelten Informationen, die dazu dienten, Anschläge zu planen. Neben Läänemets’ Auto wurden auch das Fahrzeug eines Journalisten und mehrere Denkmäler demoliert. Laut dem ISS waren noch weitere Attacken geplant.
Seit Russlands Angriff auf die Ukraine wurden in Europa über 600 russische Diplomaten ausgewiesen. Damit wurde die diplomatische Spionage beendet. Der Kreml versucht seither verstärkt, auf anderem Wege an Informationen zu gelangen und Einfluss zu nehmen. Laut dem ISS sollte mit den Vandalenakten Angst und Unsicherheit verbreitet werden.
Bei den mutmasslichen Tätern handelt es sich um russische und estnische Staatsbürger und Personen, die beide Nationalitäten besitzen. Sie wurden in Russland und in sozialen Netzwerken rekrutiert. Auch wenn sie verhaftet wurden, ist die Gefahr kaum gebannt. Arnold Sinisalu, der die estnische Sicherheitspolizei von 2013 bis 2023 geleitet hatte, sagte kürzlich zur NZZ: «Man kann noch so viele Spione fangen – es kommen immer neue nach.»
Fall 2: Die entgleisten Güterzüge
Im Dezember entgleist im Norden Schwedens ein Güterzug. Das Gleis ist stark beschädigt, und die Strecke bleibt für 65 Tage gesperrt. Als sie Ende Februar wieder in Betrieb genommen wird, dauert es nur vier Tage, bis abermals ein Zug entgleist. Die schwedische Polizei hat einen Verdacht: Sabotage. Die Sicherheitspolizei Säpo ermittelt noch. Die Säpo wird beigezogen, wenn der Verdacht auf Terrorismus oder die Einmischung eines staatlichen Akteurs besteht.
Malmbanan ist eine der wichtigsten Bahnlinien Schwedens. Auf den Gleisen werden nicht nur Personen, sondern auch Fische und Eisenerz transportiert. Durch Schwedens Beitritt zur Nato ist die Linie noch wichtiger geworden. Sie verbindet das Europäische Nordmeer mit dem Bottnischen Meerbusen. Sollte Russland die Nato im Osten angreifen, könnten auf Malmbanan Waffen und Truppen von Norwegen weiter nach Schweden und Finnland transportiert werden.
Russland hätte durchaus ein Interesse daran, die Linie zu sabotieren. Ob es Hinweise darauf gibt, dass der Kreml seine Handlanger im Spiel hatte, hat bisher weder die Sapö noch Ministerpräsident Ulf Kristersson bestätigt. Die Gleise sind in einem schlechten Zustand, und in den letzten Jahren kam es zu mehreren Entgleisungen. Möglich ist also auch, dass es sich um einen gewöhnlichen Unfall handelt.
Hybride Attacken sind auch deshalb so perfide, weil die Aufklärung oft viel Zeit in Anspruch nimmt. Teija Tiilikainen vom Europäischen Kompetenzzentrum für die Abwehr hybrider Bedrohungen spricht in einem Interview mit der NZZ von «undurchsichtigen Ereignissen, auf die man sich nur schwer vorbereiten kann». Ein solcher Fall ist auch die Störung von GPS-Signalen.
Fall 3: Die GPS-Störung und annullierte Flüge
Ende April hat die Fluggesellschaft Finnair verkündet, ihre Flüge von der finnischen Hauptstadt Helsinki nach Tartu im Osten Estlands einzustellen. Zuvor hatten zwei Flugzeuge kurz vor dem Ziel umkehren müssen, weil die Maschinen das GPS-Signal verloren hatten. Solche GPS-Störungen haben in den letzten zwei Jahren an der Ostsee stark zugenommen. Für Finnland und Estland ist klar, wer dahintersteckt: der Kreml.
Uneinigkeit herrscht indessen darüber, ob die GPS-Störungen mit Absicht verursacht werden. Noch im April sprach der estnische Aussenminister Margus Tsahkna von einer «absichtlichen hybriden Attacke», neuere Erkenntnisse deuten aber darauf hin, dass die Störungen zwar von Russland verursacht werden, aber womöglich gar nicht auf den Flugverkehr und Wetterballons abzielen.
Ukrainische Drohnen haben in den letzten Monaten Ziele weit weg von der Frontlinie ins Visier genommen, so etwa eine Ölraffinerie unweit von St. Petersburg an der Ostsee. «The Economist» schreibt, dass die GPS-Störungen in Finnland und Estland womöglich durch russische Abwehrmassnahmen verursacht worden seien. Finnair hat mitgeteilt, die Flüge nach Tartu im Juni wieder aufnehmen zu wollen.