Erstmals geben Zahlen Auskunft über ein problematisches Phänomen.
Das «Zunfthaus zur Haue» liegt mitten in der Zürcher Altstadt. Von der Terrasse aus hat man einen privilegierten Blick auf das historische Rathaus, das Limmatquai, den Fluss und den Kirchturm von St. Peter. An dieser Lage ein erfolgreiches Restaurant zu führen, müsste ein Kinderspiel sein – könnte man meinen.
Doch als Christian Rizzo die Gastwirtschaft in dem geschichtsträchtigen Gebäude 2023 übernahm, erlebte er eine unschöne Überraschung. Es gingen zwar viele Reservationen ein – aber zahlreiche der angemeldeten Gäste traten nie bei ihm über die Schwelle. Und er blieb auf den Umsatzeinbussen sitzen.
Mit diesen sogenannten No-Shows kämpfen die Gastronomen der Stadt Zürich schon seit Jahren. Weil spontane Gäste seit der Corona-Pandemie seltener geworden sind, hat das Thema sogar noch an Bedeutung gewonnen. Wie sehr, zeigt eine neue Untersuchung des Unternehmens Lunchgate.
Die Auswertung macht deutlich: Immer mehr Gäste lassen sich einen Tisch frei halten, an dem sie nie Platz nehmen. Und: Die Restaurants im Kanton Zürich haben zwar die zuverlässigere Kundschaft als jene im Tessin. Im schweizweiten Vergleich liegt Zürich aber bloss im Mittelfeld.
Hunderttausende leerer Tische
Die Plattform, die Christian Rizzo und rund 1200 andere Restaurants in der Schweiz sowie in Deutschland und Österreich für die Abwicklung ihrer Online-Reservationen verwenden, stammt von der Firma Lunchgate. Dort hat man einen ziemlich genauen Überblick über das Verhalten der Restaurantgäste.
Die Resultate der Datenauswertung zeigen, dass von allen 2024 reservierten Tischen in der Schweiz 2,3 Prozent leer blieben. Im Kanton Zürich sind es 2,5 Prozent.
Das sehe vorerst nach wenig aus, falle für die Gastronomen aber durchaus ins Gewicht, sagt Yves Latour von Lunchgate: «Die Gesamtzahl der Reservationen, die wir allein in der Schweiz abwickeln, bewegt sich im zweistelligen Millionenbereich.» Die Anzahl leerer Tische geht also in die Hunderttausende. Und dies, obwohl die Gäste der an Lunchgate angegliederten Restaurants standardmässig per E-Mail oder SMS an ihre Reservation erinnert werden.
Das Gastgewerbe, das mit Gewinnmargen zwischen 1 und 2 Prozent arbeite, reagiere empfindlich auf solche Einbussen. Entsprechend gross ist das wirtschaftliche Interesse, die No-Show-Rate möglichst tief zu halten. In den letzten Jahren ging der Trend aber in die gegenteilige Richtung: 2019 belief sich der Wert der No-Shows im Schweizer Mittel noch auf 1,4 Prozent.
Der Anstieg sei zum Teil damit zu erklären, dass seit der Corona-Pandemie generell mehr reserviert werde. Für die Wirte hat das den Vorteil, dass sie viel besser planen und beispielsweise mit einer doppelten oder sogar dreifachen Belegung ihrer Tische rechnen können.
Die Entwicklung habe aber auch einen Haken: «Der Anteil spontaner Restaurantbesuche ist in einen marginalen Bereich abgesunken», sagt Latour. Bleibt ein reservierter Tisch leer, mangelt es deshalb an Laufkundschaft, die für die fehlenden Gäste «einspringen» kann.
Eine neue Methode löst das Problem
Zu Beginn seiner Zeit im «Zunfthaus zur Haue» seien No-Shows ein grosses Problem gewesen, sagt Rizzo. Um reservierte Tische frei zu halten, habe er gelegentlich sogar die Anfragen anderer Gäste abgewiesen. Wenn dann niemand kam, hatte das Lokal einen leeren Tisch, mit dem es nichts verdiente.
Um dem vorzubeugen, fing Rizzo an, telefonisch bei den Gästen nachzufragen. «So wusste ich wenigstens, wer an einem Abend längst etwas anderes vorhatte.» Das Vorgehen kam der Planungssicherheit zugute, war aber ausserordentlich aufwendig.
Deshalb entschied sich Rizzo für eine Methode, die im Ausland schon verbreitet ist – in der Schweiz aber noch immer Skepsis auslöst. Rizzo verlangte bei jeder digitalen Reservationsanfrage eine Kreditkartennummer. Wer ohne zu stornieren fernbleibt, zahlt eine Gebühr von 50 Franken pro Person.
«Seither hat sich das Problem für uns erledigt», sagt Rizzo. In der ganzen Zeit habe es nur einen Fall gegeben, in dem die Gebühr fällig geworden sei.
Obwohl erste Gastronomen wie Rizzo positive Erfahrungen damit machten, seien finanzielle Massnahmen in der Schweiz noch selten. Bei Lunchgate arbeiteten derzeit rund hundert Betriebe mit einer Gebühr, sagt Yves Latour: «Viele fürchten sich davor, die Gäste abzuschrecken, wenn sie eine Kreditkarte verlangen.» Manche Gastgeber würden erst umschwenken, wenn sie genug negative Erfahrungen gemacht hätten.
Wenn sich die Zuverlässigkeit der Gäste weiterhin verschlechtert, dürften also bald mehr Gastgeber auf Gebühren setzen – auch das zeigt die Auswertung von Lunchgate.
Je mehr Reservationen, desto mehr leere Tische
Die No-Show-Raten variieren von Landesteil zu Landesteil. Am höchsten sind sie in den Kantonen Tessin, Genf und Wallis. Dort bewegen sich die Werte um 4 Prozent.
Einen Grund für die regionalen Unterschiede macht Yves Latour in der unterschiedlichen Beliebtheit der Kantone bei ausländischen Touristen aus. Diese seien flexibler und nähmen Reservationen weniger verbindlich wahr.
Die Werte sind in den Kantonen Basel-Landschaft (1,1 Prozent) und Appenzell Ausserrhoden (0,8 Prozent) am tiefsten. Von den Grossstädten Basel, Bern, Luzern und Zürich hat die Reisedestination Luzern mit 2,9 Prozent die höchste No-Show-Rate, die Stadt Zürich folgt mit 2,8 Prozent. An dritter Stelle steht Zug mit einer Rate von 2,7 Prozent.
Schwankungen gibt es auch im Hinblick auf den Wochentag oder den Monat. Die allermeisten missbräuchlichen Reservationen gibt es an Samstagen und Freitagen – ausgerechnet jenen Tagen, an denn die Gastrobetriebe den grössten Teil ihres Umsatzes erwirtschaften wollen.
Warten bei einem Glas Prosecco
Zudem fallen besonders viele No-Shows auf den Dezember, der für viele Betriebe im Gastgewerbe zu den umsatzstärksten gehört. Zusammenfassend lässt sich somit sagen: «Je mehr insgesamt reserviert wird, desto mehr missbräuchliche Reservationen sind dabei.»
Während schweizweit immer mehr Gäste reservieren, ohne aufzutauchen, setzt Christian Rizzo im «Zunfthaus zur Haue» auch auf das Gegenteil: Gästen, die spontan bei ihm essen wollten, biete er einen Prosecco an, um ihnen die Wartezeit zu erleichtern.
«So warten die Leute gern auf den nächsten freien Tisch. Das funktioniert erstaunlich gut», sagt Rizzo.