Der Nazikriegsverbrecher verbrachte in jungen Jahren ein paar Monate bei der Familie eines jüdischen Geschäftsmanns in Kopenhagen. Angesichts der Judenverfolgung erinnerte sich dieser an ein höfliches Versprechen des deutschen Gasts.
Am 25. November 1919 findet Hugo Rothenberg in seiner Post den Dankesbrief eines Bekannten. Der 37-jährige Rothenberg ist ein gutsituierter Geschäftsmann, ein deutschstämmiger Jude, der seit vielen Jahren in der dänischen Hauptstadt Kopenhagen lebt.
Wenige Monate nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hat er einen jungen Deutschen aufgenommen, bald hat sich ihr Verhältnis freundschaftlich, ja vertrauensvoll entwickelt. Der junge Deutsche, bei den Frauen als Draufgänger bekannt, war im Krieg ein erfolgreicher Kampfflieger. Die neuen politischen Verhältnisse in Deutschland – der Sturz des Kaisers und die mühevolle Geburt der Weimarer Republik – sind nicht nach seinem Geschmack. Deshalb hat er sich entschlossen, für eine Weile nach Dänemark auszuweichen.
«Ich danke Ihnen von ganzem Herzen»
In Kopenhagen wurde ihm der Kontakt zu Hugo Rothenberg vermittelt. Der Geschäftsmann hat ihn bei sich aufgenommen und ihn finanziell unterstützt. Der Deutsche, damals 26-jährig, hat mit der jüdischen Familie eng zusammengelebt und mit ihr freitagabends den Schabbat gefeiert.
Nach fünf Monaten ist er nach Schweden weitergereist, von wo er dem Gastgeber einen Brief schreibt: «Ich danke Ihnen von ganzem Herzen für all die Hilfe, die Sie mir erwiesen haben. Es beschämt mich, dass ich mich in so vieler Hinsicht auf Sie verlassen musste, ohne mich in irgendeiner Weise revanchieren zu können.» Und der Autor fügt zuletzt hinzu: «Sollte es mir jedoch möglich sein – hier oder in Deutschland –, Ihre guten Dienste in irgendeiner Weise zu erwidern, zögern Sie bitte nicht, auch nur ein bisschen, mich zu kontaktieren.»
Das Angebot wirkt im November 1919 ziemlich vermessen angesichts der Tatsache, dass der Verfasser des Briefes ein mittelloser Mann ohne berufliche Aussichten ist, der Adressat aber ein erfolgreicher Geschäftsmann. Noch überraschender ist aus heutiger Sicht der Name des Absenders: Hermann Göring.
Vermutlich hat Hugo Rothenberg lange gar nicht mehr an den Brief gedacht. Vernichtet aber hat er ihn nicht. Und fast auf den Tag genau neunzehn Jahre nach Empfang erinnert er sich im November 1938 wieder an das Schreiben. Die Verhältnisse haben sich inzwischen freilich dramatisch verändert. Hermann Göring ist zum zweiten Mann des «Dritten Reiches» aufgestiegen. Er ist unter anderem Minister der Luftwaffe und Beauftragter für den Vierjahresplan, der Deutschland auf einen Krieg um «Lebensraum» vorbereiten soll.
Hugo Rothenberg macht sich Sorgen um seine deutschen Verwandten, weil im «Dritten Reich» die Juden bereits systematisch verfolgt werden. Gerade hat der Propagandaminister Joseph Goebbels mit der «Reichskristallnacht» einen landesweiten Pogrom angeordnet, bei dem Synagogen, jüdische Geschäfte und Privatwohnungen geplündert und verwüstet wurden. Rund 1000 jüdische Bürger sind dabei ermordet worden, mehr als 30 000 hat man in Konzentrationslagern interniert.
Viele Juden wollen nur noch eines: raus aus Deutschland. Allerdings ist die Ausreise schwierig, weil die deutschen Behörden kaum noch die notwendigen Papiere ausstellen und andere Länder sich restriktiv bei der Aufnahme verhalten. Hugo Rothenberg hat vier Schwestern, die in Bad Kreuznach nahe Frankfurt am Main leben. Auch ihr Haus wurde in der Pogromnacht verwüstet, und auch sie wollen jetzt möglichst schnell weg aus Deutschland. Sie bitten ihren Bruder in Dänemark um Hilfe. Und so erinnert er sich an Görings Versprechen.
Ein Anruf aus Verzweiflung
Aus einer Mischung aus Verzweiflung, Chuzpe und Naivität entschliesst er sich, den einstigen Schützling, der unterdessen die Politik Deutschlands mitbestimmt, anzurufen und um Hilfe zu bitten. «Und es geschieht das scheinbar Unmögliche: Als Göring den Namen Hugo Rothenberg hört, lässt er sich mit ihm verbinden. Er hat dessen Unterstützung neunzehn Jahre zuvor nicht vergessen», sagt Louis Elsass Meyer.
Meyer ist ein direkter Nachfahre Rothenbergs und hat dessen Verhältnis zu Göring intensiv recherchiert. Er fand in Archiven in Dänemark, Deutschland und anderen Ländern Unterlagen zu dieser erstaunlichen Verbindung. Es ist eine verschollene Geschichte, die in den Biografien über Hermann Göring keine Erwähnung findet. Obwohl der Anruf Rothenbergs bei Göring nur der Anfang eines jahrelangen Kontakts ist, der bis weit in den Zweiten Weltkrieg reicht.
Tatsächlich bekommen Rothenbergs Schwestern kurz nach dem ersten Gespräch die notwendigen Papiere ausgehändigt und können Deutschland in Richtung Dänemark verlassen. Hugo Rothenberg wittert eine Chance. Er hat seit Jahren mit wachsender Sorge das Schicksal seiner jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern in Deutschland verfolgt. Nun beschliesst er, seinen hochrangigen Kontakt in Berlin zu nutzen, um ihnen zu helfen.
Tatsächlich zeigt sich Göring zum Gespräch bereit. Der Reichsminister, zweithöchstes Mitglied einer antisemitischen, rassistischen Regierung, lädt den Juden Rothenberg nach Berlin in sein Ministerium ein und vermutlich auch in sein Privathaus in der Hauptstadt. Der erste Besuch findet am 29. November 1938 statt; es sollte nicht der letzte sein. «Es ist nachgewiesen, dass Hugo mehrmals bei Göring zu Besuch war und dass sie eine Reihe von Telefongesprächen führten», sagt Louis Elsass Meyer. Göring ruft auch selbst in Kopenhagen an. Als eines Tages kurz nach Görings Anruf das Telefon erneut läutet, meint Rothenbergs Frau trocken: «Das ist jetzt ganz bestimmt Hitler.»
Immer stärker engagiert sich Rothenberg für die deutschen Juden. Seine Idee ist es, dem NS-Regime ein Geschäft anzubieten: Es soll die Juden ausreisen lassen und dafür Devisen kassieren – Geld von reichen Juden im Ausland. In direkten Gesprächen konfrontiert er Göring mit seiner Idee, wie Briefe und Berichte Rothenbergs belegen. Er weiss, wie sehr das NS-Regime Geld benötigt.
Rothenberg gelingt es, ein persönliches Treffen zwischen Göring und einem Vertreter jüdischer Hilfsorganisationen in Deutschland zu organisieren. Selber reist er vermutlich bis 1941 nach Berlin – also noch lange nach Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Und unermüdlich knüpft er in Europa und ausserhalb ein Netz Gleichgesinnter, in London, Lissabon, New York, Zürich und anderswo trifft er Vertreter jüdischer Organisationen. Wegen seines Kontakts zu Göring wird Rothenberg bisweilen allerdings auch mit Misstrauen beäugt.
Die notwendigen Pässe für seine Reisen besorgt ihm ein Vertrauter bei der Kopenhagener Polizei. 1941 oder 1942 taucht er auch in Genf auf und besucht Gerhart Riegner, den dortigen Vertreter des Jüdischen Weltkongresses. Später berichtete Riegner dem dänischen Historiker Bent Blüdnikow, wie erstaunt er gewesen sei über Rothenbergs präzise Informationen zum Schicksal der deutschen Juden.
Rothenberg glaubt ernsthaft an Görings Interesse an seinem Devisen-Angebot. Zumal er ihm mit ausführlichen Briefen antwortet. Am 20. November 1939 schreibt der Reichsminister Rothenberg auf dem offiziellen Briefpapier seines Amtes: «Bei der Lösung der Judenfrage ist immer der Gedanke führend gewesen, irgendein Gebiet in der Welt zu finden, in dem eine Art Judenreservat errichtet werden konnte, zumal Palästina keineswegs den notwendigen Raum findet und die übrigen Staaten, die über genügend Land verfügen, noch keinen solchen Raum tatsächlich bereitgestellt haben.»
Eine TV-Serie
Doch was konnte Hugo Rothenberg durch seine Bemühungen tatsächlich erreichen? «Genauere Kenntnisse über Hugos Erfolge bei der Rettung von Juden haben wir leider nicht», sagt Louis Elsass Mayer. Es könnten einige wenige gewesen sein, aber es sei auch möglich, dass er an der Rettung Tausender Juden beteiligt gewesen sei.
Wegen seiner persönlichen Kontakte zu Göring wird Hugo Rothenberg von den Engländern kurz nach Kriegsende für einige Wochen im Gefängnis festgehalten. Er zieht sich daraufhin zurück und redet nicht mehr über seine Beziehung zum berüchtigten Reichsminister. 1948 stirbt er verbittert.
Louis Elsass Meyer aber hat das Leben Hugo Rothenbergs in einer packenden dreiteiligen TV-Dokumentation aufgearbeitet, die in Dänemark zu einem Strassenfeger wurde. Seine Hoffnung: «Wenn seine Geschichte über Dänemark hinaus bekannter wird, melden sich vielleicht weitere Menschen, die etwas über ihn wissen.»
Armin Fuhrer lebt als freier Journalist und Historiker in Berlin.